Vom Flüstern zum Aufschrei: Sexismus besteht in Deutschland weiter

Am 25. Januar ging ein #Aufschrei durch die deutsche Blogosphäre. Ausgelöst wurde dies von einem Artikel im Stern, in dem die Journalistin Laura Himmelreich von einer Begegnung mit dem FDP-Politiker Rainer Brüderle berichtete, bei dem er Bermerkungen über ihren Busen machte und ihr auf eine unangemessene Art zu nahe kam. Die Schilderung Himmelreichs ist dabei nur eine der Episoden des alltäglichen Sexismus.

Twitternutzerinnen berichteten daraufhin unter dem Hashtag #aufschrei von ihren Erlebnissen des alltäglichen Sexismus, der sexuellen Belästigung oder sogar des Missbrauchs. Hier einige der Tweets:

@terrorzicke: Der Prof, der mir auf der Erasmus-Party zuraunte “I want to see you naked!” #aufschrei #England

@Ine_12e: Ich näh die Dammnaht enger als vorher, da wird ihr Mann sich sicher drüber freuen. Arzt nach Geburt #aufschrei

Aufschrei

Street Art in Karlsruhe. Foto auf Flickr von theodoritsis (CC BY-ND 2.0)

@KatiKuersch: Der Vorgesetzte, der mir sagte, ich müsse nur mal flachgelegt werden, dann ginge es mir psychisch sicher besser. #aufschrei

@marthadear: der vater einer schulfreundin, der auf ihrer geburtstagsfeier all ihren freundinnen poklappse gab. ich habe mich immer versteckt. #aufschrei

@Wendelherz: Wie ich anfangs das Gefühl hatte, gar nix beisteuern zu können, und dann nach und nach alles hochkommt und ich kotzen möchte. #aufschrei

hanhaiwen: Und all die Leute die auf solche Vorfälle jemals mit einem verständnislosen „ja und?“ reagiert haben. #aufschrei

@sincerelyjurs: Und immer wieder das Gefühl, sexistische Situationen nicht als solche benennen zu dürfen, um nicht als Spaßbremse dazustehen. #aufschrei

MmeCoquelicot: Es geht nicht darum, dass ich mich nicht wehren KANN. Es geht darum, dass ich es nicht ständig müssen sollte. #aufschrei

Sexismus ist kein Problem, so denken viele Deutsche. Dass dem nicht so ist, zeigen die Tweets unter dem Hashtag #aufschrei. Sie offenbaren, wie alltäglich das Phänomen immer noch ist. Journelle twittert:

Was ich an #aufschrei mag,ist,dass dieser “Minisexismus” in der Masse mal sein ganzes hässliches Gesicht zeigt und nicht runtergespielt wird.

Antje Schrupp schreibt über den Nachrichtenwert von Sexismus und geht damit auf die Ursache dieser Debatte ein:

Auch viele Männer, die sich selbst gegenüber Frauen völlig korrekt verhalten, dachten bis vorgestern: Das ist zwar nicht schön, aber doch keine Nachricht – und suchten deshalb nach “Nebengründen”, die diese Veröffentlichung erklären könnten.

Es braucht aber keine weiteren Gründe, um so eine Story zu veröffentlichen, denn es gibt inzwischen massenweise Frauen und auch Männer, die das durchaus für eine Nachricht halten. Die sexuelle Belästigung keineswegs für eine Lappalie halten, auch dann nicht, wenn sie sich auf “niedrigem Niveau” abspielt.

Wie so oft in solchen Debatten, meldeten sich auch die Ignoranten zu Wort. Hier noch eine der freundlicheren Stimmen derjenigen, die der Kampagne kritisch gegenüberstehen oder sich über sie lustig machen:

@robby_eberlein: #aufschrei Wie langweilig und trostlos muss der Alltag sein wenn man sich über solchen Nonsens dermassen aufregen kann…..

Meike Lobo kritisiert in ihrem Blog unter anderen die Unschärfe der Begriffe Sexismus, MJissbrauch oder sexueller Gewalt:

Die Vermischung dieser Schlagworte überdramatisiert das Eine und — weitaus schlimmer — bagatellisiert das Andere. Die Grundhaltung mag bei allem eine ähnliche sein, nämlich die Objektifizierung des Gegenübers, aber das ist nach meinem Empfinden auch alles.
Kindesmissbrauch und Vergewaltigung sind schwerste Verbrechen und allein schon dadurch ganz klar zu trennen von Sexismus, der zwar oft unangenehm, schmierig und geschmacklos, aber eben kein Verbrechen ist. Solche schlimmen Verbrechen für die Lösung eines sozialen Problems zu missbrauchen, empfinde ich als Ohrfeige ins Gesicht aller Opfer sexueller Gewalt (sie selbst mögen das freilich anders empfinden).

Einsichtige Männer

Einige Männer zeigten sich einsichtig und betonten, in Zukunft sensibler auf dieses Thema zu reagieren.

John twittert:

@einbequemesbrot: Schon krass, dass es heute noch so zugeht. Werde in Zukunft aufmerksamer sein. #Aufschrei

Alf Frommer berichtet in seinem Blog siegstyle.de über seinen Sinneswandel, der durch die Diskussion ausgelöst wurde:

Es steckt eben in jedem ein Brüderle. Eine Zoten-König oder ein Blicke-Belästiger. Ich sollte mein Verhalten überprüfen, auch wenn ich von mir selbst niemals annehmen würde, ich wäre ein Sexist. Aber vielleicht ist das gerade die Gefahr: ich halte mich für einen modernen Mann, der Frauen ernst nimmt und für die Gleichberechtigung und die Frauen-Quote eintritt. Trotzdem bin ich in einigen Dingen nicht besser als ein Ol’ Dirty Brüderle oder ein Franz-Josef Wagner, der eine Bildungsministerin zunächst mal nach dem Äußeren bewertet.

Daher bin ich froh über die Diskussion – weil ich darin in erster Linie eine Aufforderung sehe, mich selbst zu überprüfen.

Auch die Mainstreammedien berichteten am Nachmittag des 25. Januar über die Debatte bei Twitter, z.B. Handelsblatt oder Spiegel. Inzwischen ist die Debatte in allen Medien angekommen. Die Hauptnachrichtensendung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender berichtet darüber und beim Politiktalk am Sonntagabend streiten Sexisten und Feministen um Begrifflichkeiten und darum, ob es ein Sexismusproblem gibt.

Die Debatte um Sexismus scheint so große Ausmaße anzunehmen, weil sie längst überwunden geglaubte Phänomene offenlegt. Die Deutschen glauben als moderne Gesellschaft Dinge, wie Sexismus und stereotype Geschlechterrollen, längst hinter sich gelassen zu haben. Dass nun die Berichte auf Twitter diesen Glauben widerlegen, führt zu heftigen Debatten, die mit sehr viel Eifer, hoch gekochten Emotionen und bisweilen sehr wenig Respekt geführt wird.

Die Twitter-Hashtags haben inzwischen auch eine internationale Dimension: #outcry und #assez.

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