Deutschland: Flüchtlinge im Hungerstreik gegen Abschreckungspolitik

Am 24. Oktober traten 25 Asylbewerber vor dem Brandenburger Tor in Berlin in den Hungerstreik. Die Aktion an diesem symbolträchtigen Ort, der für die gewaltsame Teilung einer menschlichen Gemeinschaft durch die Politik steht, ist der letzte Punkt einer Kettenreaktion, die mit der Selbsttötung des Iraners Mohammad Rahsepar im Februar in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft begonnen hatte.

Protestlager in Berlin vor dem Brandenburger Tor

Protestlager in Berlin vor dem Brandenburger Tor (Foto: Metronaut.de, CC-BY-SA)

Selbsttötungen sind in deutschen Asylbewerberunterkünften keine Seltenheit. Vielerorts werden Flüchtlinge in weit abgelegenen, gefängnisartigen Lagern untergebracht, ihre Sozialleistungen werden in Sachgutscheinen ausgezahlt, sie dürfen nicht arbeiten und es gibt nicht genug Sprachkurse. Während die Asylbewerber – räumlich und sozial ausgegrenzt, auf engem Raum zusammengepfercht – jahrelang auf die Bearbeitung ihres Asylantrags warten, dürfen sie den Bezirk der für sie zuständigen Ausländerbehörde nicht verlassen (Residenzpflicht). Trotz des seit Jahren anhaltenden Drucks aus der Bevölkerung und der Anprangerung durch Menschenrechtsorganisationen hielt die Politik bislang an diesen menschenunwürdigen Lebensbedingungen fest, um Flüchtlinge abzuschrecken, wie Kay Wendel im Blog no-racism zusammenfasst:

Konsens unter den etablierten Parteien von SPD bis CDU/CSU war, »Dämme gegen die Fluten« zu errichten und weitere Flüchtlinge abzuschrecken, indem ihre Lebensbedingungen so unattraktiv wie möglich gemacht wurden. Ein »Bündel flankierender Maßnahmen« wurde verabschiedet: Lagerpflicht, Residenzpflicht, Arbeitsverbot, Gutscheine statt Bargeld, Essenspakete, gültig bis heute.

Flüchtlingsprotest in Würzburg

Flüchtlingsprotest in Würzburg (Foto: Blog der Streikenden Iranischen Flüchtlinge Würzburg, gustreik.blogsport.eu, CC BY-NC-SA)

Nachdem sich Mohammad Rahsepar im Februar erhängt hatte, kam es zunächst zu spontanen Demonstrationen in Würzburg. Weil diese von der Politik vollständig ignoriert wurden, traten mehrere Flüchtlinge in den Hungerstreik und errichteten ein Dauerprotestlager. Ihr Recht auf Demonstrationen und Hungerstreik mussten sie sich in einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Stadt Würzburg erst erstreiten. Eine Reaktion der Politik blieb jedoch weiterhin aus.

Asylbewerbern aus anderen Städten wurde die Teilnahme an den Würzburger Demonstrationen mit Verweis auf die Residenzpflicht verboten. Daraufhin errichteten im Sommer Flüchtlinge in acht weiteren Städten unter dem Titel »Refugee Tent Action« Protestlager. Schließlich machten sich am 8. September rund 70 Flüchtlinge und Unterstützer in einer Flüchtlingskarawane zu Fuß auf den fast 600 km langen Weg von Würzburg nach Berlin, wo sie – nach einem Zusammenstoß mit Neonazis – am 6. Oktober eintrafen. Sie sind entschlossen, so lange zu bleiben, bis ihre Forderungen erfüllt werden: Abschaffung der Residenzpflicht, der Lagerpflicht und der Abschiebung.

Unterstützerin des Berliner Protestlagers

Unterstützerin des Berliner Protestlagers (Foto: Flickr-Nutzer @handverbrennung, Enno Lenze, CC BY 2.0)

Getragen wird der Protest vor allem von iranischen Flüchtlingen, jungen Leuten, die ihre Heimat nach der grünen Revolution verlassen mussten. Sie haben neben ihrer Bereitschaft, für ihre Rechte zu kämpfen, auch ein Bewusstsein für die Möglichkeiten des Internets und der sozialen Medien mitgebracht, die sie nun für ihren Protest gegen die deutschen Asylbedingungen nutzen. Die Demolager in den einzelnen Städten und das Hauptlager in Berlin richteten Blogs und Facebook-Gruppen ein, ihre Aktionen finden auf Twitter massiven Widerhall. So gelang es ihnen trotz der entschlossenen Nichtbeachtung durch die bürgerliche Politik und ihre Medien, am 13. Oktober die mit 6 000 Teilnehmern bisher größte Demonstration gegen die Lebensbedingungen von Asylbewerbern auf die Beine zu stellen.

Am 15. Oktober besetzten demonstrierende Flüchtlinge und Aktivisten die nigerianische Botschaft in Berlin, um gegen die Kooperation der Botschaften zu demonstrieren, ohne die die Abschiebung aus Deutschland nicht möglich wäre. Dabei wurden mehrere Asylbewerber verhaftet und nach eigener Aussage von der Polizei misshandelt, wovon sie im folgenden Video von YouTube-Nutzer leftvision clips berichten:

Schließlich traten rund zwei Dutzend Flüchtlinge in den Hungerstreik. Am letzten Oktoberwochenende wurden auch sie vom plötzlichen Wintereinbruch mit einem Temperatursturz um 20 Grad überrascht. Die zahlreichen Unterstützer versorgen die Demonstranten seither mit Decken, warmer Kleidung, Isomatten und Regenzelten, die jedoch immer wieder von der Polizei beschlagnahmt werden. Die Begründung: Es handele sich dabei um Campingausrüstung, und Campen sei vor dem Brandenburger Tor nicht erlaubt.

Fanden die Flüchtlinge in bürgerjournalistischen und sozialen Medien von Anfang an breite Unterstützung, so explodierte »das Web« jetzt in Entrüstung über die polizeilichen Maßnahmen. So schrieb etwa Canan Bayram (@friedhainerin):

@friedhainerin 4 Flüchtlinge im Polizeiauto,brutale Festnahme einer Unterstützerin, in der Nacht werden die Polizisten extrem – kaltes Berlin #refugeecamp

Andere, zum Beispiel Marina Weisband, rufen zur materiellen Unterstüzung der frierenden Demonstranten auf:

@Afelia Berliner! Könntet ihr euch etwas Honig, Jacken und Decken unter den Arm klemmen und am Pariser Platz vorbei schauen? #refugeecamp

Auch an politische und juristische Konsequenzen wird gedacht. Anne Roth twitterte:

@annalist Versucht, die Polizeigewalt detailliert zu dokumentieren, insb. Gesichter. Die einzige Möglichkeit, sie zu identifizieren. #refugeecamp

Die Ereignisse vor Ort werden in Live-Streams festgehalten und in Blogs dokumentiert. So schreibt Enno Lenze in seinem Blog:

Wieso man mitten in der Nacht mit einem so martialischen Aufgebot Leuten ihre Wärmflaschen abnehmen muss, verstehe ich weiterhin nicht. Sie protestieren friedlich, provozieren nicht, beschimpfen nicht und stellen sicher keine Gefahr da. Bitte lest euch mal durch, was Leute dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen und woanders um Asyl zu betteln.

Monatelang ignorierten die bürgerlichen Medien den Flüchtlingsprotest bis auf einige Kurzmeldungen in der Lokalpresse. Erst der enorme Widerhall im Internet, vor allem seit die Polizei mit zunehmender Härte gegen die Demonstranten vorgeht, zwang sie in den letzten Tagen, das Thema aufzugreifen. Der Zynismus der traditionellen Medien wurde unter anderem von Twitter-Nutzer Flüchtlingsstreik kommentiert:

@FluchtundAsyl Die deutschen Medien berichten gerne, wenn in anderen Laendern gegen Menschenrechte verstossen wird, aber wo sind sie jetzt? #refugeecamp

Vielleicht hat diese Unterstützung im Web dazu beigetragen, den Flüchtlingen Mut zu rechtlichen Schritten zu machen: Nach der Besetzung der nigerianischen Botschaft wurde gegen mehrere Polizisten Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. Laut metronaut.de liegt auch gegen den zuständigen Bezirksbürgermeister Hanke und Innensenator Henkel eine Strafanzeige wegen Verletzung der Versammlungsfreiheit und fahrlässiger Körperverletzung vor.

Update am 02.11.

Nach einem Gespräch mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer, haben die Flüchtlinge ihren Hungerstreik am Freitag beendet. Böhmer signalisierte in der Frage der Gemeinschaftunterkünfte und der Residenzpflicht Entgegenkommen, blieb bei der Abschiebung jedoch kompromisslos auf Regierungskurs. Am Montag muss der Berliner Platz vor dem Brandenburger Tor für eine angemeldete Demonstration geräumt werden. Wo und wie das Protestlager dann fortgesetzt wird, ist noch ungewiss.

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