Am 14. Juni 2012 stand Aleksandr Bastrykin, Vorsitzender des föderalen Ermittlungskomitees Russlands, vor der Presse und schüttelte die Hand von Dmitri Muratov, Chefredakteur von Novaya Gazeta, Russlands oppositionellster Zeitung. Bastrykin richtete sich an die Journalisten und sagte [ru] reumütig: „Ich möchte mich [bei Herrn Muratov] zunächst für meinen emotionalen Ausbruch bei dem Treffen [am 4. Juni] entschuldigen.“ Der Vorsitzende des Ermittlungskomitees bezog sich auf eine kürzliche Auseinandersetzung mit Sergei Sokolov, dem stellvertretenden Geschäftsführer der Novaya Gazeta, den er entführt und in die Wälder in der Nähe von Moskau gebracht haben soll, wo er ihn aufgrund eines Artikels [ru], der Bastrykin der Unterstützung eines bekannten Gangsters beschuldigte, mit dem Leben bedroht haben soll.
Der Skandal zwischen Novaya Gazeta und dem Ermittlungskomitee, inzwischen etwa zwei Tage alt, war eine interessante Affäre, die sowohl aufgrund des Ausmaßes der ursprünglichen Beschuldigungen gegenüber Bastrykin als auch aufgrund der Zügigkeit, mit der beide Seiten einen Waffenstillstand erklärten, unglaublich erscheint.
Es begann auf Twitter
Die ersten Spuren der Auseinandersetzung tauchten bei Twitter auf. Am 11. Juni, zwei Tage bevor Muratov einen offenen Brief veröffentlichte, in dem er die Geschichte aufdeckte, meldete der Duma-Abgeordnete Aleksandr Khinshtein unheilverkündend via Twitter [ru], dass den Vorsitzenden des Ermittlungskomitees ein „beispielloser Skandal“ erwarte. Khinshteins Twittermeldung kam einen Tag vor der neuesten Massendemonstration der Opposition, dem „Marsch der Millionen 2“, an einem Tag, an dem die föderalen Ermittler die Häuser und Büros prominenter Oppositioneller durchsuchten, darunter von Aleksei Navalny, Ksenia Sobchak und anderer. Zu diesem Zeitpunkt erregte Khinshteins Bemerkung zwar einige Aufmerksamkeit, seine eigene schwierige Beziehung zu Bastrykin vernebelte diese dunkle Prophezeiung jedoch.
Am 13. Juni, als Muratov die Geschichte in einem offenen Brief [ru] an Bastrykin wie eine Bombe platzen ließ, reagierte die politische Klasse Russlands mit einer Mischung aus Argwohn und Empörung. Die Social-Media-Kommentatorin und Klatschtante Bozhena Rynska schrieb in ihrem LiveJournal, dass Bastrykin „nur bellt und nicht beißt“, obwohl sie ihm auch gewissen Respekt für seinen Mut entgegen brachte:
Я одно хочу сказать: человек, способный вывезти в лес самолично, под своим именем, в ярости и в запале погрозить убийством — не гнида. Бастрыкин показал, что он способен на прямую конфронтацию, он не боится афронта.
Die Moskauer Journalistencharta (eine Gruppe “unabhängig denkender” Journalisten, die 1994 gegründet [ru] wurde) veröffentlichte eine Stellungnahme [ru] im Blog von Echo Moskau, in der sie eine „detaillierte Untersuchung“ von Muratovs Anschuldigungen sowie die Suspendierung von Bastrykin verlangten, bis die Ermittlungen beendet sind. Andrei Kolsnikov, Autor einer Kolumne bei Novaya Gazeta, äußerte [ru] die genau entgegengesetzte Meinung, indem er Muratov und seine Zeitung gegen die auf die Versöhnung mit dem Ermittlungskomitee erfolgte Kritik verteidigte:
Жаль, что важные тексты иногда остаются непрочитанными. […] В нем редакция требовала три вещи: извинений за угрозы; обеспечение безопасности заместителя главного редактора Сергея Соколова; обеспечение безопасности сотрудникам редакции, выполняющим задания на Кавказе. Все три требования были удовлетворены. И теперь, после принятых извинений Бастрыкина, в глазах части коллег и читателей «Новая газета» — предатель дела борьбы с «кровавым режимом».
Der Journalist Aleksandr Podrabinek schrieb in dem Blog von Echo Moskau, dass er Novaya Gazeta den auf die Erfüllung von Muratovs Forderungen durch Bastrykin erfolgten Rückzug verzeiht, und erklärte, dass die Redaktionen sich in erster Linie um die Sicherheit ihrer Reporter kümmern müssen. Er fügte jedoch hinzu:
Однако «лесная история» перестала быть фактом личных отношений между Сергеем Соколовым и Александром Бастрыкиным. Она перестала быть даже частным делом «Новой газеты» и СК. Это стало общим делом, публичным, и взаимные извинения фигурантов этой истории ничего не меняют.
Echo Moskaus an vorderster Front & die “Siloviki”
In den 24 Stunden, in denen dieser Skandal “ungelöst” blieb, haben einige Journalisten von Echo Moskaus vor dem Hauptgebäude des Ermittlungskomitees eine Protestkundgebung veranstaltet. Einige prominente Journalisten wurden fast sofort verhaftet (was zu der heute typischen Flut von Instagram-Fotos aus den Polizeiwagen führte). Aleksei Venediktov, der Chefredakteur von Echo Moskaus, veröffentlichte am nächsten Tag einen Dankesbrief [ru] in seinem Blog, in dem er denen seine Dankbarkeit aussprach, die über die Festnahmen berichteten. Diejenigen, die nicht berichtet haben, hat er sein Temperament spüren lassen:
А тем коллегам, которые предпочли не заметить этого, скажу – не волнуйтесь, когда ваши журналисты попадут в подобную ситуацию (а наша профессия такая – обязательно попадут), “Эхо Москвы” будет информировать своих слушателей о таких историях. Мы просто считаем это правильным.
Der Autor, Blogger und Kritiker der Opposition Maksim Kononenko machte auf die besondere Rolle von Khinshtein in dieser Auseinandersetzung aufmerksam. Er spottete [ru] über die Reporter von Echo Moskaus, die in einen Skandal hineingezogen wurden, der vermutlich durch Akteure des politischen Establishments dirigiert wurde:
[…] Бастрыкин, конечно, гондон (оценочное мнение), но все же эта история (зная методы и направления работы Хинтшейна) выглядит прямо скажем сомнительно.
Nach der öffentlichen Versöhnung fasste Kononeko seine Verschwörungstheorie wie folgt zusammen:
Я думаю, что было так. Муратов рассказал Хинштейну. Хинштейн посоветовал ему: раздуй. Бастрыкин не устоит. Бастрыкин устоял. Муратов откатил назад. А Хинштейн вроде бы ни причем. ггг
Der weissrussische Journalist Pavel Sheremet erwähnte ebenfalls den Schatten von eliteinternem Kampf. In LJ schrieb er, dass der Skandal, der möglicherweise wirklich passiert war, wahrscheinlich auch eine Falle war:
Главного российского следователя, наверняка, подставили. […] Ему подослали для дискредитации не проститутку, как обычно, а журналиста. В том мире привыкли ставить знак равенства между проституткой и журналистом. Несчастный Бастрыкин провокации не почувствовал, сначала наорал на журналиста, потом вывез его в лес, угрожал […]. […] Нам хотят показать, что Бастрыкин беспредельщик или немного устал.
Oleg Kashin, ein Blogger und Kolumnist, scheint damit einverstanden zu sein. In einem Kommentar vom 14. Juni erwähnte er die Rolle Khinshteins und schrieb, dass die Vorwürfe gegen Bastrykin zu abscheulich sind, um nicht Teil einer größeren Kampagne zu sein:
[…] участие во всей истории известного микроблогера Александра Хинштейна, анонсировавшего накануне скандал в своем Twitter, и публикация разговора Бастрыкина с журналистом Соколовым на известном таблоидном сайте, и давний конфликт между Следственным комитетом и Генпрокуратурой — контекст нельзя игнорировать, и в этом контексте превращение Бастрыкина в образцового “плохого парня” из кино выглядит именно как эпизод информационной войны.
In einem Blogeintrag mit dem Titel “Siloviki Run Wild” [en] [Siloviki auf freiem Fuß] zitierte Brian Whitmore von Radio Free Europe / Radio Liberty einen besorgniserregenden (oder, je nach Standpunkt, auch Panik verbreitenden) Leitartikel [ru] in Vedomosti. In diesem Artikel wurde der Skandal um Bastrykin als ein Zeichen dafür gesehen, dass Putin den siloviki (den Sicherheitskräften der Regierung) eine “Freikarte” gegeben hat, um die Feinde des Präsidenten zu bekämpfen. Whitemore vergleicht diese Atmosphäre mit der Zeit vor Dmitri Medvedevs Kremleinzug 2007, als verfeindete “Klans” miteinander um die Macht in einer unsicheren, sich wandelnden politischen Landschaft kämpften.
Natürlich handelt es sich hierbei derzeit um Spekulationen. Aber wie ich schon anmerkte, benahm sich die Elite das letzte Mal auf diese Weise im späten Jahr 2007, mitten in der Unsicherheit, die herrschte, bevor Putin den Kreml verließ. Wenn es derzeit auch so ist, dann unterstellt es, dass die herrschende Elite heute, etwas mehr als einen Monat nach Putins Rückkehr an die Macht, ebenso nervös ist.
Bleibende Fragen
Wurde diese Auseinandersetzung durch Bastrykins Feinde aus dem Establishment ausgetüftelt oder produziert, um das Ermittlungskomitee zu schwächen und irgendeine andere Branche der Sicherheitskräfte zu stärken – zum Beispiel den historischen Rivalen, die Generalstaatsanwaltschaft? Spricht das Bestreben der Novaya Gazeta, die Auseinandersetzung mit Bastrykin zu regeln, dafür, dass Muratov in Panik die „unabhängige Presse“ Russlands verriet? War Khinshtein ein Beteiligter oder einfach nur eine weitere Nebenfigur in dem Ganzen? Die Antworten auf diese Fragen hängen entweder von den eigenen politischen Überzeugungen ab, oder es existieren heute einfach keine überzeugenden Antworten. Eine weit schwierigere Frage ist vielleicht: wird sich in einem Jahr noch irgendjemand an diese Geschichte erinnern? Und in 5,5 Jahren, wenn Putins derzeitige Amtszeit sich dem Ende nähern wird?