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Tunesien: Kontroverse über Präambel der neuen Verfassung

Kategorien: Nahost & Nordafrika, Tunesien, Bürgermedien, Meinungsfreiheit, Menschenrechte, Politik, Protest, Recht

Der Eintrag ist Teil unseres Dossiers über die tunesische Revolution 2011/12 [1]

Ärger in Tunesien über den endgültigen Entwurf der Präambel für die neue Verfassung: Den Entwurf hat die verfassungsgebende Versammlung, die nach dem Sturz des Ben Ali-Regimes gewählt wurde, erstellt. Viele Blogger sind mit der Sicht der Abgeordneten eines post-revolutionären Tunesiens nicht einverstanden.

Präambel für die neue tunesische Verfassung Copyright: Tunisia Live

Der tunesische Journalist Farah Samti [2] [en] von der lokalen Nachrichtenseite Tunisia Live übersetzte den Text der Präambel.
In den Medien ist immer noch wenig die Rede von der Präambel. In Diskussionsforen haben verschiedene Blogger Einwände gegen die Verfassung erhoben.

Die Blogger haben ein Problem mit dem Sprachgebrauch, der verwirrenden Vermischung von Gedanken im Text und mit dessen Länge.

Dies sind einige wichtige Punkte, die in der Blogosphäre diskutiert werden. Die Autoren sind: der seit langem in Tunis ansässige politische Blogger Erik Churchill [3] [en] und die Blogs Nadia from Tunis [4] [fr], Debatunisie.com [5] [fr] und Masr wa Touness [6] [en].

Länge und Vermischung von Ideen

Erik Churchill: Die tunesische Präambel [auf der anderen Seite] umfasst 433 Wörter (auf Englisch) und acht Absätze. Sie enthält Bezüge zur tunesischen Geschichte, zur arabischen Geschichte, zur islamischen Kultur, zu den Palästinensern und zur Umwelt. Die Tatsache, dass die Fertigstellung des Entwurfs sechs Monate dauerte und die Tatsache, dass es ein „Abwasch von Ideen“ ist, verheißt nichts unbedingt Gutes für den Zeitplan, der vom Sprecher der verfassungsgebenden Versammlung, Mustapha Ben Jafaar, ausgegeben wurde. Jafaar versprach, dass das Dokument bis Oktober 2012 vollständig sein würde.

 

NadiaFromTunis: Ce texte est extrêmement lourd. Alors qu’un préambule est censé inspirer respect et amour de la patrie et des valeurs communes au peuple tunisien, nous voilà en présence d’un morceau médiocre de littérature sans queue ni tête, où l’effort – trop visible – des élus d’y introduire tout et n’importe quoi a résulté en une chose qui manque d’homogénéité, tant au niveau de la langue que du contenu. On y voit pêle-mêle des références historico-culturelles du pays et des postures géopolitiques dont on ne sait si le peuple les approuve ni quel sens elles ont dans un contexte par définition mouvant alors qu’il s’agit là d’un texte fondateur censé. durer

Nadia aus Tunis: Der Text ist extrem schwerfällig. Während eine Präambel dazu dient, beim Volk Respekt und Liebe für das eigene Land und die gemeinsamen Werte anzuregen, haben wir jetzt ein mittelmäßiges Stück Literatur vor uns ohne einen Anfang oder ein Ende, in dem das – zu offensichtliche Bemühen – der Abgeordneten, alles Mögliche einzubringen, zu einer Sache geführt hat, der es an Homogenität mangelt, auf der sprachlichen genauso wie auf der inhaltlichen Ebene. Man sieht ein Durcheinander von historisch-kulturellen Bezügen des Landes und geopolitischen Haltungen, von denen wir weder wissen, ob die Bevölkerung ihnen zustimmt, noch welche Bedeutung sie haben, wo es doch eigentlich um einen grundlegenden Text geht.

Arabisch-muslimische Identität und Islam werden zu stark betont, die universalen Rechte zu wenig erwähnt

Erick Churchill: 3) In dem Dokument werden Bezüge zu universalen Werten und Rechten vermieden. Während das Dokument humane und gleiche Rechte unter Tunesiern bekräftigt, wird nicht der kühne Schritt unternommen, universale Rechte, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN, zu befürworten. Viele muslimische Länder haben es abgelehnt, dieses Dokument zu unterzeichnen, da einige von ihnen darin eine Unterdrückung der islamischen Scharia sehen. Liberale in Tunesien hatten gehofft, dass die Versammlung diesen kühnen Schritt unternimmt, der Maßstäbe für die Richter des Landes setzen könnte und den Text zu einer Grundlage für gerichtliche Entscheidungen machen würde. Da das Dokument so vage bleibt, wird die Verfassung selber oder das bürgerliche Gesetzbuch des Landes näher präzisieren müssen, welche Rechte als grundlegend angesehen werden.

 

NadiaFromTunis: Ici le mot Islam (et ses dérivés) est cité 3 fois[…]. Voyons voir si ces 3 références sont bien nécessaires. La première fait peur : comment ça « se baser sur les constantes de l’islam » ? quelles constantes et selon qui d’abord ? et que veut dire le fait de se baser dessus et dans quel but ? bref, le summum de l’interprétabilité sur un sujet aussi sensible est un crime contre les générations futures (ou une chose totalement inutile, ça dépend). La deuxième pourrait être exprimée autrement, même si à mon humble avis, il s’agit là de la seule référence à peu près acceptable dans le sens où elle fait partie d’un passage sur les composantes historico-culturelles du peuple. La troisième fait partie d’un magma d’idées qui ne me semblent pas avoir leur place dans une constitution censée représenter tout le peuple et ne pas préjuger de ses choix diplomatiques et géopolitiques présents et futurs.

Nadia aus Tunis: Hier wird das Wort Islam (und Derivate des Begriffs) dreimal zitiert […]. Lasst uns einmal schauen, ob diese drei Bezüge wirklich notwendig sind. Der erste macht Angst: Was soll das heißen „basierend auf den Konstanten des Islams“? Welche Konstanten und aus wessen Sicht zuerst? Und was soll die Aussage, darauf „basierend“ und mit welchem Ziel? Kurzum: Die äußerst starke Interpretierbarkeit eines so sensiblen Themas ist ein Verbrechen gegen die zukünftigen Generationen (oder eine völlig sinnlose Sache, das hängt davon ab). Der zweite Bezug könnte anders ausgedrückt werden. Selbst wenn es sich nach meiner bescheidenen Meinung um den einzigen Bezug handelt, der fast akzeptabel ist, da, wo er in einem Absatz über die historisch-kulturellen Komponenten der Nation steht. Die dritte Erwähnung steht in einem Brei von Ideen, die nicht ihren Platz zu haben scheinen in einer Verfassung, die die ganze Bevölkerung repräsentieren und nicht aktuellen und zukünftigen diplomatischen und geopolitischen Entscheidungen vorgreifen soll.

 

Debatunisie.com: Il est évident qu'en donnant à notre consitution un socle religieux, nous intégrons une part d'irrationnel dans nos textes de lois, ouvrant ainsi la porte aux multiples interprétations. Nous mettrons sous tutelle notre citoyenneté au profit d'experts de la religion qui nous expliqueront d'après leurs sciences occultes les arcanes de nos codes de conduite et de nos lois. Ils useront de sourates ou de hadiths hermétiques -à nous autres pauvres mortels- pour légiférer à notre place, censurer et atteindre à notre liberté.

Debatunisie.com: Es ist offensichtlich, dass wir einen irrationalen Teil in unsere Gesetzestexte integrieren, indem wir unserer Verfassung einen religiösen Sockel geben. Damit öffnen wir vielfältigen Interpretationen die Pforte. Wir lassen uns als Staatsbürger entmündigen zugunsten von Religionsexperten, die uns gemäß ihrer Wissenschaften unsere Verhaltensregeln und Gesetze erklären werden. Sie werden Koranverse und hermetische Hadithen (Überlieferungen des Propheten Mohammed) anwenden – auf uns – armen Sterblichen, um Gesetze an unserer Stelle zu erlassen und unsere Freiheiten zu zensieren.

Copyright: Debatunisie.com

Eine überbetonte politische Agenda

Die Umma, die religiöse Gemeinschaft der Muslime, die Einheit des Maghreb, die arabische Einheit und die Befreiungsbewegung Palästinas sind vielleicht die Schlüsselwörter, die die größte Kontroverse über die Präambel verursacht haben. Da sich diese Begriffe sich nicht auf die Rechte oder Pflichten des tunesischen Volkes beziehen, vermutete man hinter diesen Botschaften eine politische Agenda.

NadiaFromTunis: C’est là qu’on en arrive plus largement à cette histoire d’union (maghrébine, arabe). Mais qui vous dit que tous les tunisiens sont d’accord pour s’unir avec les pays voisins ? Ou alors les 217 élus sont en charge d’en décider pour eux ? Et si je ne veux pas moi de cette union, serais-je hors la loi ou carrément excommuniée, mon passeport brûlé et vouée au statut d’apatride ? Bref, j’aimerai dire à ces gens que non, ces affaires là on peut en discuter dans d’autres circonstances quand il s’agira de définir notre politique internationale, et qu’il faudra nous demander notre avis sur la question avant de conclure un quelconque accord de ce genre. Et ne venez pas me dire « mais moi je suis d’accord pour qu’on s’unisse » … je m’en fous, la question n’est pas là, la question est que ce préambule n’est pas fait que pour vous, et surtout que c’est le préambule d’une constitution, pas le programme du Ministère des Affaires Etrangères du gouvernement Machin.

Nadia aus Tunis: An dieser Stelle (der Präambel) kommen wir ausführlicher zu dieser Geschichte der Einheit (maghrebinische, arabische). Aber wer sagt, dass alle Tunesier damit einverstanden sind, sich mit den Nachbarländern zu vereinigen. Oder sind etwa die 217 Gewählten dafür verantwortlich, für sie zu entscheiden? Und wenn ich persönlich diese Vereinigung nicht will, würde ich dann außerhalb des Gesetzes stehen oder sogar exkommuniziert werden, würde mein Pass verbrannt werden und ich den Status einer Staatenlosen erhalten? Kurz, ich möchte diesen Leuten gerne sagen: Nein, über diese Angelegenheiten können wir unter anderen Umständen diskutieren, wenn es darum geht, unsere internationale Politik zu definieren und dass sie unsere Meinung zu der Frage einholen müssen, bevor sie Abkommen solcher Art schließen. Und erzählt mir nicht „aber ich stimme zu, dass man sich vereint“ – das ist mir egal, das ist nicht die Frage. Die Sache ist, dass die Präambel nicht nur für Euch gemacht ist, es ist die Präambel einer Verfassung und nicht die eines Programms des Außenministeriums irgendeiner Regierung.

Palästina

Masrwa Touness: So sehr ich mir auch um die palästinensische Sache sorge, kann ich die Tatsache, dass es, weil es eine “arabische” Sache ist, über jeder anderen steht, nicht akzeptieren. Das würde einfach bedeuten, dass Unterstützung mit Ethnizität einhergeht, nicht mit Gerechtigkeit. An vielen Orten der Welt sind Menschen in Situationen, die mindestens so schrecklich wie die Lage der Palästinenser sind und manchmal viel schlimmer. Das Hungersterben in Somalia an Hunger, das Morden der Taliban in Afghanistan oder die Dschandschawid -Miliz in Darfur sind weder weniger wichtige noch weniger schmerzhafte Probleme. Wenn die palästinensische Sache bevorzugt wird, würde Tunesien das Signal senden, dass nicht alle Opfer gleich sind.

 

Erik Churchill: Die Frage der Palästinenser wird in nicht sehr subtiler und gewisser Hinsicht problematischer Weise aufgegriffen. Das Dokument besagt, dass Individuen das Recht zur Selbstbestimmung haben und unterstützt rechtmäßige Befreiungsbewegungen, vorneweg die zur Befreiung von Palästina. Das ist eine komische Konstruktion, offensichtlich in erster Linie von der Motivation getragen, die palästinensische Sache zu unterstützen. Daran ist der Bezug zur Selbstbestimmung interessant als gesetzliche Grundlage für die palästinensische Staatlichkeit, in Abwesenheit von Krieg. Selbstbestimmung ist jedoch die Basis für Unabhängigkeitsbewegungen auf der ganzen Welt, insbesondere der West-Sahrauis in ihrem Konflikt mit der marokkanischen Regierung und der Berber in der Kabylei in Algerien. Es wird interessant zu beobachten sein, ob diese Klausel diplomatische Probleme für die Regierung schaffen wird, wenn sie die Sache der pan-maghrebinischen Einheit wieder angeht.

Lücken

Masrwa Touness: Als ein halber tunesischer Amazigh (Berber), fühle ich mich persönlich durch diese Präambel aus meinem Land geworfen. Tunesien wird als arabisch-islamisch bezeichnet, damit werden die Amazigh-Wurzeln unserer Identität/Kultur ignoriert (ich spreche noch nicht einmal von der Berberisch-sprechenden Minderheit, aber über die Mehrheit, die, obwohl sie nicht Berberisch spricht, die kulturellen Merkmale der Berber-Zivilisation teilt, wie alle anderen Länder des Maghreb). Die Berber-Sprache hat keinen Status in der Präambel: weder als offizielle Sprache, noch als nationale, noch als Minderheitensprache. Als wenn die Berber-Sprache überhaupt gar nicht existiert.

Ich habe den Eindruck, dass ich als Tunesier weniger wichtig für die Herrschenden bin als die Palästinenser. Als Afrikaner, fühle ich meine afrikanische Identität nicht respektiert (so viel Betonung auf dem Arabischen in dieser Präambel, nichts für Afrika?) und als Mensch fühle ich mich gedrängt einer Sache (der palästinensischen) den Vorzug zu geben, nicht wegen der Menschen, die involviert sind, sondern wegen der involvierten Ideologie (ich denke nicht, dass ein Palästinenser mehr leidet als zum Beispiel ein Mensch aus Darfur oder ein Somalier).

Die verfassungsgebende Versammlung soll über diese Präambel im nächsten Oktober abstimmen, vermutlich, wie der Vorsitzende der Versammlung ankündigte, nach der Fertigstellung des Entwurfs der anderen Teile der Verfassung.

Der Eintrag ist Teil unseres Dossiers über die tunesische Revolution 2011/12 [1]