Russland: Die 10 wichtigsten Wörter des Runet-Jargons

Ohne grundlegende Kenntnisse des Jargons der russischsprachigen Webwelt (Runet) hat man kaum eine Chance, politische Diskussionen russischer Blogger recht zu verstehen. Wer die Feinheiten von Online-Satiren und Bloggerdebatten durchdringen – oder seine virtuellen Gegner »trollen« – möchte, kommt ohne die hier vorgestellten zehn Jargonwörter nicht aus.

1. Зомбоящик (Zombokiste) beschreibt das Fernsehen als ein bösartiges Gerät, das seine Benutzer in Zombies verwandelt. Im Runet wird die Fernsehbranche als ein Instrument der Machthaber betrachtet, das den Verstand der Zuschauer lähmen und sie vom politischen Kampf ablenken soll, indem es die Fernsehsüchtigen unablässig mit Propaganda, stupiden Programmen und stumpfsinniger Werbung überflutet.

Das folgende Video mit englischen Untertiteln veranschaulicht den Zombokisten-Humor anhand einer Parodie auf russische Nachrichtensendungen (Vorsicht: anstößige Sprache).

2. Ботокс (Botox) ist einer der Spitznamen Wladimir Putins. Eingebracht haben ihm diesen Namen Gerüchte, er habe sich in den vergangenen Jahren mehrmals Botox spritzen lassen, vermutlich um sich ein jugendlich frisches Aussehen zu bewahren. Nach einem 2011 ausgestrahlten Fernsehinterview machte die ungewöhnliche Glätte von Putins Gesicht »#ботокс« zu einem der beliebtesten Hashtags der russischen Twitterwelt.

Fünftausend protestieren gegen Wahlfälschungen in Russland: Sex ja, Botox nein.

»Sex ja, Botox nein.« Aufgenommen während der Demonstrationen gegen die Wahlfälschungen am 24. Dez. 2011. Quelle: Dmitrij Nikolajew, © Demotix.

Garri Kasparow, Gründer der Oppositionsbewegung Solidarnost, nutzte den Spitznamen »Botox« auf besonders markante Weise [ru], als er sich über Putins Tränen nach seinem jüngsten Wahlsieg mokierte:

Вчера, я думаю, это была не слеза, это вытекал ботокс. Он чувствовал свой конец. И в наших силах приблизить его. Мы будем праздновать освобождение страны от оккупантов. Перед тем, как построить свободную страну, надо прибраться – надо смыть эту лужу ботокса с карты России. За Россию без Путина!

Was wir gestern sahen, war, meine ich, keine Träne, sondern auslaufendes Botox. Er fühlte sein Ende nahen. Und wir können es beschleunigen. Wir werden die Befreiung des Landes von den Besatzern feiern. Doch ehe wir ein freies Land aufbauen können, müssen wir aufräumen – müssen wir diese Botoxpfütze von der Russlandkarte wischen. Für ein Russland ohne Putin!

3. Айфончик (iPhonetschik) nennt das Runet gern den früheren Präsidenten und jetzigen Premierminister Dmitrij Medwedjew. 2010 besaß Medwedjew als erster russischer Bürger ein iPhone 4 – Steve Jobs selbst hatte es ihm geschenkt (siehe folgendes Video). Medwedjews in allen Medien verbreitete Begeisterung für dieses Gerät wie auch für seinen iPad verglichen Beobachter mit der eines Kindes, das über ein neues Spielzeug aus dem Häuschen ist. Der Spitzname »iPhonetschik« ist ihm geblieben.

4. Хомячки (Hamster) ist ein Schimpfwort, mit dem meist oppositionelle russische Blogger bedacht werden. Anfangs machte ihm noch »лемминги« (Lemminge) Konkurrenz, das sich jedoch nicht durchsetzen konnte. »Hamster« soll implizieren, dass Blogger, die ihre Ansichten als unabhängig bezeichnen (womit man sich in Online-Debatten gern verteidigt), tatsächlich besonders anfällig für Manipulationen und Massenmeinungen sind. Hamsterkommentare zu Blogartikeln werden häufig als formalistisch und unpatriotisch verspottet. Während einer nicht genehmigten Demonstration nach den Parlamentswahlen vom Dezember 2011 schrieb Aleksej Nawalnyj:

Они могут смеяться в своём зомбоящике. Они могут называть нас микроблоггерами или сетевыми хомячками. Я – сетевой хомячок! И я перегрызу глотку этим скотам. Мы все вместе это сделаем.

Sie können in ihrer Zombokiste lachen. Sie können uns Mikroblogger oder Netzhamster nennen. Ich bin ein Netzhamster! Und ich werde diesen Dreckskerlen die Kehle durchbeißen. Wir alle zusammen tun das.

5. Кремлядь (Kremlutten) ist eine Zusammenziehung von »Кремль« (Kreml) und dem Allzweckschimpfwort »блядь«, das hier im Sinne von »Nutte« gebraucht wird. Die Kremlutten sind all diejenigen, die ihren Lebensunterhalt im Dienste Putins und seiner Gefolgschaft verdienen: die Direktoren der Zombokiste, die korrupten Journalisten, die Ideologen von Einiges Russland und Naschi, prominente Putinbefürworter und in gewissem Maß auch die Führer der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Vor zwei Jahren verwendete Boris Nemzow, ein bekannter Kreml-Kritiker, der selten ein Blatt vor den Mund nimmt, dieses Wort im Titel eines Blogartikels [ru]: »Кремлядь — позор нашей страны“ (Die Kremlutten sind eine Schande für unser Land).

6. Либераст (Liberást) dient der Verunglimpfung von Menschen mit liberalen, prowestlichen politischen Ansichten. Den Liberasten wird unterstellt, sie unterstützten auf Kosten russischer Nationalinteressen westliche Vorstellungen von universellen Werten und Menschenrechten.

Auch in diesem Schimpfwort fließen zwei Wörter zusammen: »либерал« (Liberaler) und »педераст« (Päderast, das in Russland vor allem auch als homophobe Schmähung verwendet wird). Es verknüpft den Nationalismus also auf perfide Weise mit der weit verbreiteten Homophobie [en]. Zum Beispiel erklärte der Außenminister kürzlich, eine gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität, wie sie die westliche Welt in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut habe, sei in Russland aufgrund seines christlich-orthodoxen Erbes vollkommen ausgeschlossen.

7. Поцреот (Pozreót) ist eine Ableitung von »Patriot«, bei der die erste Silbe durch das derbe jiddische »poz« (Penis) ersetzt wurde.

Die Pozreoten sind nach der aufdringlichen öffentlichen Zurschaustellung ihrer Liebe zu Russland und den Staatsorganen benannt. Ihre archetypischen Feinde sind Amerikaner und Juden. Pozreoten werden gern dafür verlacht, dass sie nicht miteinander vereinbare Aussagen aneinanderreihen. Zum Beispiel leugnen einige die Judenvernichtung durch die Nazis, sagen aber gleichzeitig: »Hitler tat gut daran, die Juden auszulöschen.«

Amüsanterweise ziehen es viele Pozreoten vor, im Ausland zu leben und ihre Heimat aus sicherer Entfernung zu lieben.

8. Рашка (Ráschka) ist ein abfälliger Name, bei dem manche Russen ihr Land nennen. In ihm fließen eine Rückrussifizierung des englischen »Russia« (im Gegensatz zum russischen »Rossíja«) und die russische Verkleinerungsform »-ka« zusammen. Er wird vor allem von ausgewanderten Bloggern verwendet, die über Russlands politische und soziale Probleme schreiben.

Raschka

»Raschka lebt nach ihren eigenen Gesetzen.« Auf vielen Websites veröffentlichtes anonymes Bild. 22. Mai 2012.

9. Совок (Sowók) beschreibt einen Menschen, der dem Denken, der Ideologie, der Lebensweise der Sowjetunion verhaftet geblieben ist. Klischee-Sowoks sind sklavisch, sozial abhängig, antidemokratisch, fremden Meinungen gegenüber intolerant und – ganz allgemein gesprochen – dumme, bösartige und eifersüchtige Menschen.

10. Пиндос (Pindós) ist ein altes Wort mit neuer antiamerikanischer Bedeutung. Während es ursprünglich die Schwarzmeergriechen verunglimpfte, bezeichnete es allmählich generell körperlich und moralisch schwache Ausländer südlicher Herkunft und war in der Sowjetunion in militärischen und kriminellen Kreisen wegen seiner klanglichen Ähnlichkeit mit anderen russischen Schimpfwörtern beliebt. Seine neue Bedeutung erhielt es, als nach dem Jugoslawienkrieg im Kosovo stationierte russische Angehörige der UN-Friedenstruppen die amerikanischen Soldaten als »Pindosy« klassifizierten. Von da aus wurde das Wort auf alle Amerikaner ausgeweitet und ist in diesem Sinne heute im Runet gebräuchlich.

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