[Der italienische Originalartikel wurde am 16. März 2012 veröffentlicht. Alle Links sind auf Italienisch sofern nicht anders angegeben.]
In Italien wird der Streit um den Bau der neuen Bahnstrecke Turin-Lyon immer erbitterter. Die “No TAV”-Bewegung kämpft weiterhin gegen das Projekt, und in den letzten Wochen haben die zunehmenden Proteste die Angelegenheit ins Zentrum des Interesses von Politik und Medien gerückt.
Seit 1991 stellt sich diese hauptsächlich von den Einwohnern des Susatals im Piemont getragene Protestbewegung gegen den Bau einer neuen Bahnlinie für einen Hochgeschwindigkeitszug (it. Treno ad Alta Velocità, kurz TAV) von Turin nach Lyon. Seine Gegner halten das Projekt für nutzlos und zu teuer; darüber hinaus befürchten sie Schäden für die Region und ihre Bewohner, sowohl unter umwelttechnischen als auch unter sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Die Bahnlinie würde die Landschaft verunstalten, das Dorfbild einiger Ortschaften unwiederbringlich verändern und zur Schließung örtlicher Kleinunternehmen führen.
Die italienische Regierung und die EU sind entschlossen, das Projekt voranzutreiben. Sie stufen es als “strategisch wichtig” ein, da es Norditalien mit Osteuropa verbinden soll. Die Bürgermeister und Einwohner der Gemeinden im Susatal halten den Bau einer neuen Bahnlinie jedoch für vollkommen ungerechtfertigt, da der Güterverkehr auf der bestehenden Linie minimal ist. Der Bau würde den italienischen Staat etwa 30 Milliarden Euro kosten, und das in Krisenzeiten, in denen die italienischen Bürger den Gürtel enger schnallen müssen.
In den letzten Monaten sind die Behörden besonders hart gegen die Protestbewegung vorgegangen. Nach den Zusammenstößen im letzten Sommer wurde die Arbeit an der Trasse am 27. Februar wiederaufgenommen; dafür wurde eine Mahnwache der Bewegung geräumt und Privatland wurde ohne vorschriftsmäßiges Enteignungsverfahren eingezäunt.
Bei einer kürzlichen Demonstration gegen die Räumung wurde Luca Abbà, einer der bekanntesten Vertreter der Bewegung, beim Sturz von einem zehn Meter hohen Mast schwer verletzt. Als unmittelbare Reaktion darauf wurde die Einstellung der Arbeiten gefordert. In diesem Video, das auch auf YouReporter.it verfügbar ist, sieht man, wie Polizisten nach einer Blockadeaktion der Demonstranten auf der Autobahn ein Lokal stürmen und die Personalien der dort Anwesenden aufnehmen.
http://www.youtube.com/watch?v=ltFytXSsT6s
Viele Netzbürger sehen die Polizeieinsätze gegen die Demonstranten und deren “aufrührerische” Darstellung in den italienischen Medien als Vorwand, um die ganze Protestbewegung zu delegitimieren. So schreibt etwa Mauro Piras im Blog Le Parole e le Cose:
Il problema non è più prendere posizione. Pro o contro la TAV (o il TAV? la divisione passa anche per le parole, i No TAV della valle usano il maschile). E non è neanche quello dei “gruppetti di violenti” contrapposti alla “maggioranza dei manifestanti pacifici”. Questa rappresentazione è ingenua, o costruita. C’è qualcosa di più profondo, qualcosa che sfugge a noi quarantenni della classe media di, diciamo, centrosinistra
Die Debatte hat sich inzwischen auf ganz Italien ausgeweitet und ist über Jugendzentren auch in die Schulen gelangt; auch Schülergruppen haben demonstriert. Die Seite Rete della conoscenza erklärt die Beweggründe der Jugendlichen:
Crediamo che quest'operazione della polizia avesse come unico obiettivo quello di criminalizzare e screditare un movimento che aveva organizzato una grande manifestazione pacifica (…).
La battaglia No Tav, non è solo una lotta di un popolo in difesa di una valle ma è una lotta di tutti coloro che credono che il territorio sia un bene comune da difendere e non da sfruttare per interessi economici, per questo torneremo in Val Susa e saremo sempre al fianco di chi lotta contro le opere inutili.
Der Kampf gegen den TAV ist nicht nur der Versuch einiger Gemeinden, ihr Tal zu schützen, sondern ein Kampf all derer, die glauben, dass das Land ein schützenswertes Allgemeingut ist und nicht etwas, das man aus wirtschaftlichen Interessen heraus ausbeuten kann. Darum werden wir ins Susatal zurückkehren und wir werden immer denen zur Seite stehen, die gegen solche unsinnigen Projekte kämpfen.
Auch auf Twitter sind lebhafte Diskussionen entbrannt. @Axell, einer der Gegner der Bewegung, schreibt:
Gli studenti NO TAV dei licei che oggi hanno bloccato Porta Nuova e zone limitrofe sanno dove è la Val di Susa? #SiTav #aveterottoleballe
Unter den Befürwortern der No-TAV-Bewegung sind hingegen @fulviomassa:
“inizia ora la passeggiata verso la baita Clarea” forza #notav! #forzaluca!
Antonio Ballestrazzi @pesce2802:
#sitav #notav spiegatemi bene,per migliorare il trasporto delle merci prosciughiamo i fiumi che servono a irrigare i campi che le producoono
und @uomoinpolvere:
ma com'è possibile che pure a un sondaggio mediaset il 70% sono #notav e in parlamento e sui giornali sono tutti #sitav? fatevi due domande
Hinter der Solidarität mit den Demonstranten stehen unterschiedliche Beweggründe. Der Blog Uninomade sieht die No-TAV-Bewegung im Kontext der Krise in Europa [en]:
Il No Tav è un movimento dentro la crisi e contro l’austerity, i suoi temi centrali sono dichiaratamente la lotta ai tagli, al debito e sul welfare. Non contro lo sviluppo e la modernità, ma per lo sviluppo dell’autonomia della cooperazione sociale contro lo sviluppo capitalistico che tenta di imbrigliarla o distruggerla.
Antonio Negri, der die Protestbewegung mit der globalen Occupy-Bewegung [en] in Zusammenhang bringt, ruft zum Dialog auf:
Qualsiasi persona calma e tranquilla che non viva nel ricordo ossessivo degli anni ’70 come certi nostri dirigenti sembrano vivere, sa che trattare è possibile ed evitare radicalizzazioni inopportune e pericolose è utile. Ma per farlo bisogna che la politica in Italia rinasca e non può rinascere che dalla presa di parola di coloro che, resistendo, aprono a tutti la speranza di una nuova partecipazione democratica.
In ganz Italien zeigen Menschen mit Wort und Tat ihre Unterstützung für das Susatal. Höhepunkt war die Initiative “Blocchiamo tutto” (Wir blockieren alles) vom 1. März, bei der die Hauptbahnhöfe von Rom und Bologna und andere wichtige Eisenbahnknotenpunkte blockiert wurden. Unterdessen breiten sich die Solidaritätskundgebungen auch auf andere europäische Länder aus; auch auf der französischen Seite der geplanten Bahnstrecke wurde demonstriert.
Während der ganzen Zeit der Protestaktionen hat sich auch Anonymous Italia hervorgetan. Die Hacker haben zuerst die Internetseite der Carabinieri lahmgelegt, dann die offiziellen Seiten der Regierung, des Vatikans, der staatlichen Eisenbahngesellschaft Trenitalia und der Steuereinzugsagentur Equitalia. Hier die Reaktionen einiger Netzbürger:
Baruda:
#Anonymous e #Trenitalia: niente da fare, io li amo! TANGO DOWN #OpItaly wp.me/pfk0G-2dj #notav
andrea_nicolini:
@Skytg24: #Anonymous attacca #Trenitalia.it: tra il tilt e la normale fruibilita’ del sito nessuna differenza…
Info Free Flow:
Oggi paga #equitalia. #Anonymous riscuote. Ma i conti non sono ancora saldati. pastebin.com/BSX9gNs7
Während die Staatsanwaltschaft gegen einige Demonstranten ermittelt, gegen die nach den letzten Protestkundgebungen Anzeige erstattet wurde, ist die allgemeine Lage weiterhin unsicher und konfliktgeladen. Auf Twitter erzielt der Hashtag #neinzumtav die meisten Treffer; auf Vimeo haben I Fratelli di TAV (Die TAV-Brüder) eine Reihe von Videos hochgeladen, in denen sie Geschichten, Dynamiken und Aktionen der Bewegung zeigen, darunter auch diese Blockade der Autobahn Turin-Bardonecchia am 29. Februar: