Brasilien: Lage der Hausangestellten im Wandel

Um die tief greifenden Veränderungen der letzten Zeit in der brasilianischen Gesellschaft zu verstehen, genügt es nicht, sich mit dem BIP und mit Zinsraten zu beschäftigen. Es finden neue Entwicklungen im Sozialgefüge statt, die von den Bürgermedien verfolgt werden.
Ein Beispiel dafür ist die Situation der Hausangestellten. Zu diesem Thema kam 2011 eine Debatte rund um soziale Integration, schlechte Arbeitsbedingungen, soziale Hierarchie, Gender-Fragen und Empowerment auf.

Neue Trends
Soziale Integration scheint ein Schlüsselelement für viele der Veränderungen zu sein. So belegen Untersuchungen [pt] des Forschungsinstituts Data Popular das Anwachsen der „C Klasse“, der neuen brasilianischen Mittelschicht. Diese Bevölkerungsgruppe hat die Vorteile genutzt, die der Zugang zu Bildung, höhere Einkommen und Sozialprogramme bieten. Viele Unternehmen haben inzwischen die Relevanz dieser Gruppe als Marktsegment entdeckt und versuchen nun deren Besonderheiten zu verstehen.

 Ohne Titel (Performance-Dokumentation). Gemälde von Ana Teresa Fernandez, veröffentlicht mit Genehmigung.

Ohne Titel (Performance-Dokumentation). Gemälde von Ana Teresa Fernandez, veröffentlicht mit Genehmigung.

Die Studie hat Empowerment-Trends im beruflichen Werdegang der Frauen gezeigt; im Vergleich zur vorigen Generation hat sich die Anzahl der als Hausangestellten beschäftigten halbiert, da viele zur Weiterentwicklung der eigenen Karriere nach anderen Berufsmöglichkeiten suchen.
Marketing Consultant Luiz Marinho hat in seinem Blog [pt] Daten veröffentlicht, die diese Entwicklung bestätigen. So ist die Anzahl der Hausangestellten in den letzten neun Jahren lediglich um 9 % angestiegen, während die Bevölkerung gleichzeitig um 13,5 % anwuchs. Die steigenden Löhne der Hausangestellten sind auch durch diese Tatsache beeinflusst.
Espinho no dedo [pt] (Stachel im Finger), ein Blog zu Philosophie und Politik, hat Daten eines Artikels von BBC Brasil aufgegriffen, wonach der durchschnittliche Einkommenszuwachs in Brasilien bei 25 % lag, während das Einkommen der Hausangestellten im gleichen Zeitraum um 43,5 % anstieg.
Dabei ist zu beachten, dass das Thema Hausangestellte nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen interessant ist. Soziale und kulturelle Merkmale wie Selbstwertgefühl, Arbeitnehmerrechte, Vorurteile und die Genderproblematik sind mit der Rolle der Hausangestellten verbunden.

Soziale Transformation

Cristina P. Rodrigues schrieb im Blog Somos Andando [pt], (Wir laufen) über einen kürzlich in The Economist erschienenen Artikel [en], wonach Brasilien seine Hausangestellten im Rahmen der stattfindenden sozialen Umwälzungen sozusagen befreit, und die Armen sich nicht mehr den Regeln der Reichen unterwerfen.
Comba Marques Porto führt in Consciência feminista [pt] (Feministisches Gewissen) aus, dass die häusliche Umgebung, in der die persönlichsten zwischenmenschlichen Beziehungen bestehen, auch der Ort ist, wo subtile Gender-Diskriminierung auftritt. Seit Beginn der brasilianischen Geschichte lag Hausarbeit immer in der Verantwortung der Frau, „ein patriarchalisches Erbe, das bis in moderne Zeiten übernommen wurde und Ungleichheiten festschrieb, die mit neuen demokratischen Wegen unvereinbar sind“:

A figura da criada chega aos meados do século XX pela permanência do modelo de desmedida exploração da força de trabalho no âmbito doméstico. Segue-se, assim, uma constante de tratamentos desiguais, de descumprimento das leis, fatos somente explicáveis pelo desvalor conferido ao trabalho nos setores do mercado em que há concentração da mão de obra feminina.

Durch die fortgesetzte Ausbeutung der Hausangestellten blieb die Rolle des Hausmädchens (früher Sklavenarbeit) bis Mitte des 20. Jahrhunderts unverändert. Was folgte war ein Standardmuster gesetzeswidriger Ungleichbehandlung, das nur durch die Unterschätzung der Aufgaben in einem Bereich mit überwiegend weiblichen Beschäftigten begründet werden kann.

In einem Beitrag zu einem Blogkarneval zum Thema Hausarbeit schreibt [pt] die Journalistin Luka, dass Hausarbeit, die üblicherweise von Frauen verrichtet wird, unsichtbar ist und marginalisiert wird. Aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist es die Frau, die sich um Haus- und Familienarbeit kümmert. Sie fragt sich, ob das nicht ein Grund ist, dass diese Arbeit eine so prekäre Beschäftigung ist.
Michell Niero kommentiert bei O Patifúndio [pt] das „Dienstmädchenzimmer“, das auch in modernen Wohnhäusern noch vorhanden ist.

A presença do “quartinho de empregada” nas plantas residenciais, longe de ser tratada como um aspecto “atrasado” da sociedade do país, representa um dentre tantos elementos formadores da modernidade brasileira, avessa a rupturas e adepta a repaginações de processos que se mantém inalterados na sua essência.

Die Existenz von “Dienstmädchenzimmern“ in Wohnhauskomplexen (Neubauten) – und das keineswegs in der Provinz – zeigt in der Tat eines der grundlegenden Elemente der modernen brasilianischen Gesellschaft, die Umbrüchen abgeneigt ist, aber Erneuerungsprozesse liebt, nur um alles beim Alten zu lassen.

 Ohne Titel (Performance-Dokumentation an der San Diego-Tijuana-Grenze). Gemälde von Ana Teresa Fernandez, veröffentlicht mit Genehmigung.

Ohne Titel (Performance-Dokumentation an der San Diego-Tijuana-Grenze). Gemälde von Ana Teresa Fernandez, veröffentlicht mit Genehmigung.


Sogar heute noch gibt es viele Anzeichen für anhaltende Konflikte zwischen Hausangestellten und ihren Arbeitgebern. Michell Niero spricht bei O Patifúndio [pt] über die Multitasking-Anforderung von Hausarbeit, die zur Einbeziehung zusätzlicher Aufgaben führt, die über die Grenzen des Arbeitsvertrages hinausgehen, zumal ein solcher förmlicher Vertrag üblicherweise gar nicht existiert. So wird die Versorgung, Erziehung und Unterhaltung der Kinder Teil der täglichen Routine.

Na ausência da mãe, a empregada se ocupa de tarefas maternas (…)

In der Abwesenheit der Mutter übernimmt das Mädchen die mütterlichen Pflichten (…)

Dies scheint auf die Verfasserin des Blogs Sem Empregada (Leben ohne Dienstmädchen) zuzutreffen, die erklärt, warum sie ihr Hausmädchen vermisst:

Às vésperas de completar quatro anos sem empregada, pela primeira vez, estou cogitando voltar a ter uma na minha vida… as meninas estão em recuperação no colégio, com perigo real de repetir de ano (…). Um absurdo. Eu e meu marido estamos nos perguntando se isso tudo não está acontecendo porque não tem ninguém dentro de casa para cobrar horário de estudo, fiscalizar se estão na internet ou vendo televisão.

Nach beinahe vier Jahren ohne ein Hausmädchen denke ich erstmals darüber nach, doch wieder eines einzustellen… die Mädchen waren schlecht in der Schule und laufen Gefahr, das Schuljahr wiederholen zu müssen (…). Lächerlich! Mein Mann und ich fragen uns, ob es nicht daran liegt, dass niemand zu Hause ist, um ihre Lernzeiten zu überwachen und darauf zu achten, ob sie im Netz surfen oder fernsehen.

Revelar-se (sich outen) [pt] beschwert sich:

E então que, logo que me mudei, minha querida funcionária me pediu demissão com um bilhete na geladeira. Sim, um bilhete!!! E ela saiu da minha casa em uma 2a feira à tarde deixando louça na pia, uma pilha de roupa pra lavar e passar.

Und kaum war ich umgezogen in ein neues Haus kündigte mein Mädchen mit einem Zettel am Kühlschrank. Ja, genau, ein Zettel!!! Sie verließ das Haus an einem Montag, hinterließ das schmutzige Geschirr in der Spüle und einen Haufen Kleidung zum Waschen und Bügeln.

Autorin und Übersetzerin Maria do Sol schreibt im Blog Família Floresta [pt] (Familie Floresta), dass es einen gewissen Glamour verleiht, die Dienste von Hausangestellten in Anspruch nehmen zu können – die Vorstellung, frei zu sein von Routineaufgaben und das Leben und die Familie genießen zu können. Aber sie erinnert sich und die Leser daran, dass es sich hierbei um eine realitätsferne Idealvorstellung handelt.
Jeanne Callegari dagegen präsentiert im Blog Blogueiras Feministas (Feministische Blogger) einen alternativen Denkansatz für eine Zukunft ohne Hausangestellte: Einsehen, dass das Privileg, Hausangestellte zu haben, allmählich verschwindet und sich selbst um seine Sachen kümmern, „und es ist gut, dass es so läuft“.

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