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Russland: Soziale Netzwerke mobilisieren die Gesellschaft

Kategorien: Russland, Bürgermedien, Regierung, Technologie, Wahlen, RuNet Echo

Dieser Artikel wurde von Anna Ruban, Yevheniya Shabalina, Inna Fesenko, E.S. und Munkhuu Chuluunbat, Studierende des FTSK Germersheim, unter der Leitung von Dr. Annett Jubara im Rahmen des Projektes „Global Voices“ übersetzt.

Am 10. Dezember 2011 fand auf dem Bolotnaja-Platz die größte Demonstration von Regierungsgegnern in Russland seit mehr als einem Jahrzehnt statt. Es ist wohl überflüssig, diese Ereignisse detailliert zu beschreiben. Der Einfachheit halber sei an dieser Stelle auf einige ausgewählte Bloggerberichte [1] verwiesen, die dieses Thema diskutieren und sich mit der Frage auseinandersetzen, was nun wohl zu machen ist.

Für die Geschichte, die den gesellschaftlichen Einfluss der sozialen Netzwerke beschreiben wird, lohnt es sich allerdings, einige wichtige technologische Momente festzuhalten, die mit diesen Ereignissen verbunden sind. In diesem Artikel werde ich die Mechanismen darstellen, die in ihrem Zusammenspiel das bewirkten, was vor, während und nach der Protestaktion auf dem Bolotnaja-Platz geschah.

Die erste Besonderheit dieser Ereignisse besteht darin, dass in Russland das soziale Netzwerk Facebook zum ersten Mal als die wichtigste Mobilisierungsplattform benutzt wurde.

Seit ein paar Jahren verfolge ich, wie soziale Netzwerke zu öffentlichen Mobilisierungsmechanismen geworden sind. Zu einem der Pioniere dieser Technologie zählt man in Russland das Netzwerk Vkontakte, dessen Nutzer und gleichzeitig Zuschauer des Fernsehsenders 2×2 [2] auf die Straße gingen, um ihre Besorgnis angesichts eines drohenden Lizenzentzuges zu äußern. Als Mobilisierungsplattform galt in Russland oft das Blogger-Netzwerk LiveJournal (z.B. für die Bürgerbewegung „Blaue Eimer [3]“). Bis zum Dezember 2011 spielte Facebook dennoch keine bedeutende Rolle bei solchen Ereignissen, die sich nach folgendem Szenario entwickelten.

Ursprünglich sollte eine Demonstration am 10. Dezember auf dem Platz der Revolution in Moskau stattfinden. Sie wurde frühzeitig geplant und von dem Koordinator der „Linken Front [4]“ [en] Sergej Udalzow, seiner Ehefrau Anastasija und der Sprecherin der Moskauer Abteilung der Bewegung „Solidarnost [5]“, Nadeshda Mitjuschkina, beantragt. Diese Demonstration wurde sogar von den Moskauer Behörden genehmigt, jedoch nur für 300 Teilnehmer.

Man sprach dennoch von dieser Kundgebung und ihrer Genehmigung erst nach dem 6. Dezember, d.h. nachdem die Demonstration am 5. Dezember in der Parkanlage Tschistie Prudy mit unerwartet hoher Teilnehmerzahl und in einer hitzigen Atmosphäre stattgefunden hatte und durch Festnahmen beendet worden war. Darüber berichtete Alexey Sidorenko detailliert in seinem Artikel „Aufstand der Netzhamster [6]“ [en]. Am nächsten Tag, am 6. Dezember, besetzte eine vielzählige Gruppe von Bürgern aus Protest gegen „unfaire“ Wahlen den Triumfalnaja-Platz, der in den letzten Jahren zum Symbol des Widerstands gegen Wladimir Putin wurde. Diese Protestaktion wurde von der Polizei ebenfalls aufgelöst, mehrere Teilnehmer wurden festgenommen.

Unmittelbar nach der Auflösung der Demonstration am 6. Dezember auf dem Triumfalnaja-Platz wurde eine neue Facebook-Gruppe [7] [ru] für die Planung der nächsten Demonstration auf dem Platz der Revolution gegründet. Es wurde zum Beitritt zu der Gruppe und zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen. Interessant ist die Tatsache, dass diese Gruppe von einem Blogger, Ilja Klischin, gestartet wurde, der keinen politischen Gruppen und Strukturen angehört. Er leitet das Internetportal „Epic Hero [8]? [ru], das als eine Plattform für die modebewusste und kreative Hipster [9]-Szene gilt.

Schon einen Tag nach der Gründung, am 8. Dezember, erklärten sich knapp 25 000 Nutzer bereit, an der Protestaktion für gerechte Wahlen auf dem Platz der Revolution teilzunehmen. Außerdem klickten fast 8 000 Subscriber der Gruppe auf den Status „Vielleicht nehme ich teil“. In einer ähnlichen Gruppe in Vkontakte [10] [ru], bestätigten über 12 000 Nutzer ihre Teilnahme an der Demonstration.

Am Tag der Demonstration, dem 10. Dezember, waren 40 000 Menschen zur Teilnahme an der Demonstration angemeldet. Dies wurde zur zweiten Besonderheit. Meiner Meinung nach wurde die Regierung nur durch diese „Kalkulierbarkeit“, die die tatsächliche Zahl der potenziellen Protestierenden anzeigte, dazu gezwungen, ernsthafte und beispiellose Konzessionen gegenüber den Demonstranten zu machen.

Früher wusste niemand im Voraus, wie viele Menschen zu einer Demonstration erscheinen würden. So wurde zum Beispiel der Erfolg einer der ersten großen „Märsche der Unzufriedenen [11]“ 2007 in St. Petersburg sowohl für die Regierung als auch für die Organisatoren zu einer Überraschung. Die sozialen Netzwerke ermöglichen es jetzt, die tatsächliche Zahl der Menschen zu sehen, die ihren Wunsch, an der Demonstration teilzunehmen, geäußert haben. Diesmal wuchs die Teilnehmerzahl von Stunde zu Stunde, und der Regierung wurde klar, dass diese Zähler nicht manipuliert wurden. Der Protest nahm eine reale Gestalt und massenhaftes Ausmaß an.

Natürlich hat diese Massenhaftigkeit der Regierung Angst eingejagt. Sie befahl, die Demonstration weiter entfernt vom Kreml und anderen administrativen Gebäuden durchzuführen, und sorgte dabei für ihren möglichst konfliktfreien Verlauf. Die Teilnehmer gingen durch den „Korridor“ vom Platz der Revolution zum Demonstrationsort am Bolotnaja-Platz. Und obwohl sich viele Demonstranten auf eine Festnahme gefasst machten, waren die Sicherheitskräfte ganz friedlich aufgelegt und es gab keine Auseinandersetzungen.

So hat ein einfacher „Teilnehmerzähler eines Ereignisses“ auf Facebook viele Menschen vor Polizeischlagstöcken gerettet. Ein Pluspunkt für Russland!

Zur dritten Besonderheit dieser Ereignisse wurde die Tatsache, dass die Menschen zum ersten Mal mit Slogans „aus dem Internet“ zur Demonstration kamen. Und hier gab nun LiveJournal den Ton an. Gerade in LJ-Diskussionen wurden die Themen im Detail beleuchtet, die man auf den Plakaten vom Bolotnaja-Platz sah.

So erschien zum Beispiel auf einem der Plakate [12] das Gauss-Diagramm – ein mathematischer Beweis der Falsifikation der Wahlergebnisse zugunsten der Regierungspartei „Jedinaja Rossija [13]“:

Gauss-Diagramm auf dem Plakat der Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz. Foto: LJ-Nutzer Norweschskij Lesnoj [12]

Gauss-Diagramm auf dem Plakat der Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz. Foto: LJ-Nutzer Norweschskij Lesnoj

 

Russische Blogger haben die offiziell veröffentlichte prozentuale Verteilung der Stimmen in allen russischen Wahlregionen analysiert. Die Ergebnisse wurden auf der LJ-Seite von Maxim Pschenitschnikow veröffentlicht [14] [ru]. Wohl kaum ein Blogger hatte vor den Wahlen von Gauss und seinem Diagramm gehört, doch bereits am 10. Dezember stand sein Name auf den Plakaten.

Zu einem der beliebtesten Motive der selbstgemachten Plakate wurde der „Zauberer Tschurow“, der Leiter der Zentralen Wahlkommission. Präsident Medwedew nannte Tschurow „Zauberer“, als er ihn für die gut organisierten Wahlen lobte. Darauf antwortete Tschurow mit den Worten des Zauberlehrlings aus dem sowjetischen Märchenfilm „Aschenputtel“: „Ich bin kein Zauberer, ich lerne noch“.

„Wo ist meine Stimme, Zauberer?“ Ein Plakat auf dem Bolotnaja-Platz. Foto: LJ-Nutzer mamouse [15]

„Wo ist meine Stimme, Zauberer?“ Ein Plakat auf dem Bolotnaja-Platz. Foto: LJ-Nutzer mamouse

 

Die vierte Besonderheit dieser Demonstration ist es, dass vor allem Internet-Nutzer, die aktiv moderne Gadgets und Mobilgeräte nutzen, einen großen Teil der Demonstranten ausmachten.

Obwohl der genaue Anteil der Smartphone-Besitzer unter den Protestierenden nicht bekannt ist, liegen uns Statistiken darüber vor, welche Smartphones sich der größten Beliebtheit erfreuten. Der Forschergruppe SmartMarketing zufolge waren es die Apple-Nutzer, die am 10. Dezember auf dem Bolotnaja-Platz den Ton angaben: Unter den Mobilgeräten, die im Laufe der Beobachtung registriert wurden, betrug der Anteil der iPhones und iPads 46,6%.

Interessant ist dabei, dass die Teilnehmer der Demonstration ihre Mobilgeräte nicht nur benutzten, um Nachrichten live ins Netz zu schicken, sondern auch als Medium für Aktionen und Slogans.

 

Die späteren Ereignisse zeigten, dass Facebook nach wie vor eine große Rolle spielt, wenn es um die Koordinierung von politischen Aktionen geht. So wurde hier eine Organisationsgruppe [16] [ru] für die nächste Demonstration eingerichtet, die am 24. Dezember am Sacharow-Prospekt in Moskau stattfinden sollte. Nach dem Stand von 19. Dezember hatten sich zu den Protesten fast 30 000 Menschen angemeldet.