Brasilien: “Wir haben jetzt ein höheres BIP als Großbritannien. Na und?”

Eine Neuigkeit hat in der letzten Woche des Jahres 2011 in nahezu allen Medien in Brasilien Schlagzeilen gemacht: Brasilien hat Großbritannien als sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt abgelöst. Mit Verweis auf die Ausgabe vom 26. Dezember der britischen Zeitung “The Guardian” berichteten die Medien über die Prognose des Centre for Economics and Business Research (CEBR), die besagt, dass Brasilien das Jahr mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2.500 Milliarden Dollar als sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt beenden wird.

Da Großbritannien sich zum ersten Mal in einer solchen Rangliste hinter einem südamerikanischen Staat wiederfindet, wurde in den Medien der Kommentar vom Geschäftsführer des CEBR Douglas McWilliams aufgegriffen: “Brasilien schlägt die europäischen Staaten bereits seit Langem im Fußball, aber sie in wirtschaftlicher Hinsicht zu überflügeln ist ein neues Phänomen.” In Brasilien rief die Nachricht ebenfalls eine Reihe an humorvollen Beiträgen hervor, wie eine Sammlung von Abbildungen im Blog Humor Político [Politischer Humor, pt] zeigt.

Crowned Dilma. Illustration by Alberto Alpino Filho, published in Yahoo! Brasil and republished with permission.

Zeichnung von Alberto Alpino Filho, veröffentlicht auf Yahoo! Brasil und mit Erlaubnis hier abgebildet.

Das Sarico Blog [pt] wählte die Nachricht zur besten des Jahres:

Esta é, sem nenhuma dúvida, a maior notícia de 2011. E esta boa nova é fruto de um trabalho de muitas mãos, começado há 20 anos. Construir uma nação como o Brasil, requer muitas mãos e um longo período recheado de altos e baixos e com muita dúvida. O País do futuro tem nome e cores e fala português.

Viva o Brasil!

Dies ist zweifellos die wichtigste Nachricht 2011. Und diese gute Nachricht ist das Ergebnis der Arbeit vieler Menschen, die vor 20 Jahren begann. Eine Nation wie Brasilien aufzubauen erfordert viele Hände, viel Zeit mit Hochs und Tiefs und einige Unsicherheiten. Das Land der Zukunft hat einen Namen und Farben und spricht Portugiesisch.

Hurra Brasilien!

Der Finanzmanager Hamilton Silva [pt] sieht Brasilien in Richtung des fünften Platzes der führenden Wirtschaftsnationen steuern. Er sagt eine noch verheißungsvollere Zukunft voraus. In seinem Blog kommentierte er:

Todos esses fatores e um otimismo das autoridades levam o país a crescer muito mais que o previsto, ou seja, poderemos sim atingir uma posição mais confortável. A quinta posição econômica mundial revela que a nação brasileira deverá ter papel de destaque no Conselho de Segurança Permanente da ONU, deve ser ouvido de forma mais efetiva na OPEP e precisa ser respeitado quando for acionado na Organização do Comércio e outras. Deve ter papel destaque no G8, G20 e demais organismos internacionais, como FMI e Haia, enfim chegamos.

All diese Gründe und der Optimismus der öffentlichen Verwaltung haben dazu geführt, dass das Land wirtschaftlich stärker wächst als angenommen. Wir können also tatsächlich eine noch bessere Position erreichen. Die Stellung als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt bringt es mit sich, dass Brasilien im UN Sicherheitsrat als ständiges Mitglied eine prominente Rolle haben und bei der OPEC mehr wahrgenommen werden müsste. Außerdem müsste es respektiert werden, wenn seine Meinung von der Welthandelsorganisation (WTO) oder Anderen eingeholt wird. Brasilien muss innerhalb der G8, G20 und in jeder anderen internationalen Organisation wie dem IWF oder in Den Haag eine prominente Rolle spielen. An diesem Punkt sind wir mittlerweile angekommen.

Auch wenn Brasilien mit Blick auf das BIP gut abschneidet kann man das von seiner Position im Human Development Index (HDI), welcher die Lebensqualität in einzelnen Ländern untersucht und misst, nicht behaupten. Der Wirtschaftswissenschaftler Frederico Matias Bacic [pt] geht den Nachrichten tiefer auf den Grund und erklärt, warum “wir uns nicht rühmen sollen”:

O crescimento do PIB mostra que ocorreu um aumento da atividade econômica (pode-se dizer que esse crescimento acarreta em geração de empregos e renda), o que é formidável, mas não mostra uma melhora social efetiva. Temos o sexto maior PIB do mundo, mas se olharmos o IDH (Índice de Desenvolvimento Humano) ocupamos a posição 84°, estamos atrás de países como Trinidad Tobago. México, Argentina, Bahamas. Se observarmos o PIB Per capita a nível mundial ocupamos a 76º posição.

O que quero dizer como essa pequena postagem é que existem índices econômicos/sociais mais importantes que o PIB para serem observados. Ter simplesmente um dos maiores PIBs do mundo não quer dizer, por si só, que estamos indo bem, é preciso olhar uma gama de dados, não podemos nos vangloriar em cima de uma única variável. Para ilustrar melhor o que quero dizer imaginemos o seguinte: que todos os países da África se unissem formando uma nova nação, com certeza, esse novo país teria um dos dez maiores PIBs do mundo, mas isso não quer dizer que se tornariam desenvolvimentos e socialmente justos. Seria apenas um grande país, com um grande PIB, como uma grande população miserável, repleto de problemas sociais.

Das Wachstum des BIP zeigt einen Anstieg der wirtschaftlichen Aktivität (wir können davon ausgehen, dass dies zu mehr Beschäftigung und einem Lohnzuwachs führt), was hervorragend ist, aber es deutet nicht zwangsläufig auf bessere soziale Lebensbedingungen hin. Wir haben das sechstgrößte BIP der Welt, aber wenn man sich den HDI (Human Development Index) anschaut, belegen wir Platz 84, deutlich hinter Staaten wie Trinidad und Tobago, Mexiko, Argentinien oder den Bahamas. Wenn man das BIP pro Kopf als Maßstab nimmt, belegen wir Position 76.

Was ich damit sagen will, ist, dass es wichtigere ökonomische/soziale Indikatoren gibt, auf die man schauen sollte, als das BIP. Nur weil wir eines der höchsten BIPs der Welt haben bedeutet dies nicht automatisch, dass es uns gut geht. Man muss sich eine ganze Reihe von Daten anschauen, anstatt uns nur an dieser einen Kennziffer zu erfreuen. Um zu verdeutlichen was ich sagen will, stellen Sie sich Folgendes vor: alle afrikanischen Staaten vereinigen sich zu einer neuen Nation. Natürlich würde sich dieser neue Staat in den Top Ten der Staaten mit dem höchsten BIP wiederfinden aber das würde nicht bedeuten, dass dieser Staat gut entwickelt und sozial gerecht wäre. Es wäre lediglich ein großer Staat mit einem hohen BIP, einer großen armen Bevölkerung mit zahlreichen sozialen Problemen.

Charge de Enio Lins

Illustration von Enio Lins, veröffentlicht mit Genehmigung.

Der Journalist Sérgio Utsch [pt] mahnt darüber hinaus mit Blick auf andere Indikatoren zur Vorsicht. Er warnt:

O perigo dessa notícia que atiça o orgulho nacional é a cegueira que ela pode gerar. Mais importante do que termos um bolo enorme é que todos consigam comer um pedacinho digno. O “adversário” que acabamos de ultrapassar na tabela do campeonato econômico conseguiu fazer isso, enquanto nós brasileiros nos afogávamos num imenso oceano cheio de corruptos, ditadores e incompetentes. Tudo bem que o fermento do bolo inglês não anda funcionando muito bem, mas por aqui, ao contrário do Brasil, a maioria já tem um pedacinho garantido.

Die Gefahr dieser Nachricht, die den nationalen Stolz entfacht, liegt in der Verblendung, die sie erzeugen kann. Wichtiger als einen großen Kuchen zu haben ist, dass jeder ein ausreichend großes Stück abbekommt. Der “Gegner”, den wir ökonomisch überholt haben, hat dies geschafft, während wir Brasilianer in einem Ozean voll mit Diktatoren, korrupten und inkompetenten Menschen ertrinken. Es stimmt, dass der englische Kuchen nicht so groß ist, aber im Gegensatz zu Brasilien haben sich die meisten Menschen ihren Anteil daran gesichert.

Der Wirtschaftswissenschaftler Rodrigo Constantino [pt] sagt, man müsse sich im Land nur umschauen, um zu sehen, dass es angesichts von Armut, Kriminalität, illegitimer Anhäufung von Vermögen durch Korruption und Straflosigkeit, neben weiteren sozialen Problemen, keinen Grund zum Feiern gibt. Er fragt:

Sim, somos o sexto PIB do mundo. Sim, passamos o PIB do Reino Unido. E daí? Com tantos problemas que nos saltam aos olhos diariamente, é o caso de perguntar: Who cares?! Alguém aí melhorou de vida após saber desta notícia? Então que tal voltarmos nossa atenção para a imensa quantidade de problemas que temos de resolver para tornar o Brasil um país melhor, mais próspero, livre e justo?

Ja, wir haben die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ja, wir haben Großbritannien überholt. Na und? Angesichts so vieler Probleme, die jeden Tag vor unseren Augen auftauchen, sollte man fragen: Wen interessiert das? Hat sich das Leben auch nur einer Person durch diese Nachricht verbessert? Wie wäre es wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf all die Probleme lenken, die wir lösen müssen, um Brasilien zu einem besseren, wohlhabenderen, freien und fairen Land zu machen?

Daisy [pt] versprüht Optimismus, verlegt das Feiern aber auf einen passenderen Zeitpunkt:

Vamos celebrar quando alcançarmos o mesmo padrão de vida dos britânicos!

Lasst uns feiern wenn wir den gleichen Lebensstandard wie die Briten erreicht haben!
Wirtschaft: Brasilien überholt Großbritannien. Zeichnung von Benett, veröffentlicht mit Erlaubnis.

Wirtschaft: Brasilien überholt Großbritannien. Zeichnung von Benett, veröffentlicht mit Erlaubnis.

Nach Angaben von CEBR wird die Rangliste der größten Volkswirtschaften angeführt von den Vereinigten Staaten, gefolgt von China, Japan, Deutschland, Frankreich, Brasilien und Großbritannien. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) erreicht Brasiliens BIP im Jahr 2011 einen Wert von 2.518 Milliarden Dollar, was die Berechnungen des CEBR bestätigt. Im Jahr 2010 belegte Brasilien mit einem BIP von 2.090 Milliarden Dollar den siebten Platz.

 

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