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Kasachstan: Langzeitstreik eskaliert; Ausnahmezustand verhängt

Kategorien: Zentralasien & Kaukasus, Kasachstan, Bürgermedien, Medien & Journalismus, Protest, Recht

Während Kasachstan sich für die prunkvollen Feierlichkeiten des 20-jährigen Bestehens seiner Unabhängigkeit vorbereitete, entwickelte sich der siebenmonatige Streik der Arbeiter, die vom Tochterunternehmen der nationalen Ölfirma in West-Kasachstan entlassen wurden, zu brutalen Zusammenstößen mit Polizeikräften, anscheinend mit Hilfe unbekannter Provokateure.

Der Streik fing im Frühling 2011 an, im Anschluss an Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen in mehreren Ölfeldern in der Provinz Mangistau [1]. Die Regierung entschied sich dafür, sich aus dem Tarifkonflikt herauszuhalten, da sie diesen als einen Streit zwischen der Firma und ihren Angestellten ansah. Schließlich wurden einige der Anforderungen erfüllt und die meisten Arbeiter kehrten zu ihrer Arbeit zurück. Ozenmunaigaz (OMG) in Zhana Ozen, einem Ort [2] [en] mit beinahe 100.000 Einwohnern, blieb der einzige unruhige Betrieb: die Arbeiter, die nicht mit Öl arbeiten, waren nicht mit den Zugeständnissen einverstanden und verlangten eine Gehaltserhöhung.

Das Urteil des örtlichen Gerichts kam und verkündete, die Forderungen seien grundlos und der Streik illegal. Beobachter kommentierten, dass die Anführer des Streiks durch die ehrgeizigen Anweisungen für die Lohnerhöhung getäuscht wurden, und mehr verlangten, als von der Gesetzgebung vorgesehen war. Arbeiter aus dem Ort, in der OMG beinahe der einzige bedeutende Arbeitgeber ist, wurden gefeuert, und der Anführer der nicht registrierten Gewerkschaft wurde verhaftet. Ein Arbeiterstreik in einem Zeltlager auf dem Hauptplatz der Gemeinde begann.

Der Streik der beinahe tausend gefeuerten Arbeiter hat die Verbrechenslage in der Stadt nach und nach verschlimmert, sodass die eigentlichen Auswirkungen kaum noch nachzuvollziehen sind. Am 14. Dezember, zwei Tage vor den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten, veröffentlichte die Zeitung “Respublika” einen Aufruf zur Versammlung in Zhanaozen, unterschrieben von einer anonymen “Gruppe von Bewohnern der Provinz Mangistau”. Der Brief der Bewohner von Zhanaozen war in seinen politischen Forderungen ohne Präzedenz; der Artikel hatte den Titel “Nieder mit Nazarbayev [3]” [Präsident von Kasachstan]. Im Ort wurden Flugblätter verteilt, die streikende Arbeiter zu einer Versammlung auf dem Hauptplatz am 16. Dezember, dem Unabhängigkeitstag, aufforderten.

Am Vorabend des Termins forderten [4] [ru] dem offiziellen Twitterkonto des Streiks (@zhanaozen [5] [ru]) zufolge die Autoritäten die Streikenden dazu auf, den Platz für Feierlichkeiten zu räumen. Die Streikenden lehnten es ab, die Zelte zu entfernen, und, da sie eine Zwangsräumung im Schutz der Nacht befürchteten [6] [ru], mobilisierten [7] [ru] ihre Kameraden. Am Morgen des 16. Dezembers passierte nichts – das Zeltlager der streikenden Arbeiter war unberührt, und die Feierlichkeiten – eine Parade und ein Konzert – fingen an.

Es ist noch immer nicht klar, was als nächstes passierte, aber viele Augenzeugen und Journalisten der Zeitung “Respublika” und des Satellitensenders “K+”, die für die nächsten zwei Tagen die nahezu einzigen Bezugsquellen für Nachrichten aus Zhanaozen wurden, behaupteten, dass weitere Unruhen durch eine Gruppe Provokateure angetrieben wurden.
Beide Medien werden von M. Ablyazov [8] [en] finanziert, einem ehemaligen Banker mit einem großen Netzwerk wirtschaftlicher und politischer Interessen in Kasachstan. In jedem Fall endete die friedliche Versammlung und Feierlichkeiten mit gewaltsamen Zusammenstößen [9] (Video). Männer mit Stöcken und Molotowcocktails griffen die Bürger an, und veranlassten die Streikenden, die Konzertbühne zu zerstören, Autos anzuzünden und Verwaltungsgebäude zu stürmen.

Da die staatlichen Nachrichtenquellen von dem staatlichen Feiertag überwältigt waren und nicht über den Streik berichteten, wurden soziale Medien, besonders Twitter, Facebook und Youtube mit Videos von “K+”, schnell zum wichtigsten Werkzeug zur Übertragung von Informationen und vorsätzlicher Fehlinformationen über die Zusammenstöße. Der #zhanaozen [10] hashtag auf Twitter war am 16.-17. Dezember voll von sensationellen, und oft anonymen, Tweets über “Bürgerkrieg in Zhanaozen”, “Massenmorden” und in die Höhe schnellenden Zahlen angeblicher Opfer. Die Unsicherheit wurde mit der Blockierung von Twitter und einer Anzahl russischer und kirgisischer Nachrichtenseiten am Abend des 16. Dezembers nur noch größer. Der nationale Telekommunikationsbetreiber bestritt das Filtern der Daten. Die Websites waren alle noch über Umgehungsmechanismen zu erreichen.

Viele Blogger wiesen [11] [ru] misstrauisch auf eine oft genutzte Anti-Regierungskampagne im Internet, die sich der Manipulation der öffentlichen Meinung widmet, besonders am Unabhängigkeitstag, und auf den Schwerpunkt der staatlichen Medien, die während dem verlängerten Wochenende den Präsidenten glorifizierten, der seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 an der Macht geblieben ist. Das Mittel der Kampagne ist der Meinung der Blogger zufolge [12] [ru] wahrscheinlich dafür gedacht, Parallelen zu dem Andijon-Massaker [13] 2005 in Usbekistan zu ziehen.
Die Kampagne hat mehrere relativ unbekannte Nichtregierungsorganisationen und Blogger in Russland, der Ukraine und Europa und das irische sozialistische Mitglied des Europäischen Parlaments Paul Murphy [14] [en] engagiert, der keine Zeit verlor, das Ereignis im Europäischen Parlament als “Massaker” zu beschreiben [15] [en]. Murphy hatte Zhanaozen zu einem früheren Zeitpunkt dieses Jahres besucht; “K+” und “Respublika” berichteten ausführlich über den Besuch.

Die offizielle Reaktion kam am Abend des 16. Dezembers in Form einer Pressemitteilung des Generalstaatsanwalts Askhat Daulbayev, der den Tod von 10 und mehrere Verletzte in Zusammenstößen mit der Polizei zugab [16] [en], die Waffen gegen die “Hooligans” einsetzten, die Polizeiwagen, verschieden Gebäude der örtlichen Regierungsverwaltung, ein privates Hotel und das Ozenmunaygaz-Büro niederbrannten, und Läden und Bankautomaten plünderten.
Der Mangel an Informationen hat im Nachbarort Shetpe [17][en] und der Provinzhauptstadt Aktau Unruhen verursacht. Pete Leonard [18], ein Associated Press (AP)-Reporter in Kasachstan, der aus der Nähe von Aktau twittert, zitierte Vladimir Kozlov, den Anführer der nichtregistrierten Oppositionspartei “Alga”, der über ein “reales Risiko einer Provokation [19]” durch “betrunkene junge Männer, die sich mit Steinen unter die Menge mischen – und nicht offensichtlich mit demonstrierenden Ölarbeitern verbunden sind [20]“.

Am Samstag, den 18. Dezember wurde die Blockierung von Twitter aufgehoben, nachdem Präsident Nazarbayev eine Ermittlung über die Gewalt in Zhanaozen anordnete [21] [en], und einen Ausnahmezustand bis zum 5. Januar oder bis zu einer endgültigen Beilegung der Situation verhängte. Er drückte den Familien der Getöteten sein Beileid aus, und versuchte deutlich, zwischen dem Problem des Lohnkonflikts und den “Banditen, die die Situation ausgenutzt haben” zu unterscheiden [22] [en]. Interessant ist, dass der Innenminister Kalmukhanbet Kassymov die Streikenden am Vortag als die Organisatoren der Proteste benannte [23] [en], als er über die Stabilisierung der Lage in Zanaozen nach der Festnahme von 70 Personen berichtete. Die Autoritäten genügten hiermit – obwohl etwas spät – einigen Forderungen der Öffentlichkeit nach Informationen, aber es gelang ihnen nicht, nationale Trauer zu erklären und Repräsentanten der Zivilgesellschaft in die Ermittlungssonderkommission der Regierung [24] [en] mit einzubeziehen.
Die Regierung lädt in einem scheinbaren Versuch, ihre Transparenz zu zeigen, Journalisten [25] [ru] und OSZE-Funktionäre [26] [ru] dazu ein, Zhanaozen zu besichtigen, doch es bleibt undeutlich, wer tatsächlich getötet [27] [ru] wurde und was die genauen Todesumstände waren.

Die hitzige Propaganda- und Gegenpropaganda-Debatten gehen in der Facebook-Gruppe Zhanaozen [28] [ru] weiter, und mehr Updates direkt von der Website können unter dem Twitter-Hashtag #zhanaozen [29] gefunden werden. Innerhalb der Debatten werden von Beobachtern und Kommentatoren mehrere Versionen präsentiert, von einer Provokation [30] [ru] durch verbannte kasachische Oligarchen zu einer Verschwörung [31] [ru] ausländischer Staaten oder beidem [32] [ru].
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