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Kaukasus: Festgefahrene Konflikte, vergessene Leben?

Kategorien: Zentralasien & Kaukasus, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Bürgermedien, Ethnie & Rasse, Flüchtlinge, Humanitäre Hilfe, Internationale Beziehungen, Internetaktivismus, Migration & Immigration, Technologie

In den frühen 1990ern wurde der Südkaukasus von drei Konflikten erschüttert, die damals vom Krieg im früheren Jugoslawien überschattet wurden und von den internationalen Medien bis heute weitgehend ignoriert werden. Über eine Million Menschen musste ihre Heimat verlassen, als zwischen Armenien und Aserbaidschan ein Krieg um das umstrittene Gebiet Berg-Karabach [1] ausbrach, während fast gleichzeitig nahezu eine halbe Million Menschen vertrieben wurde, als Georgien die Kontrolle über die beiden abtrünnigen Gebiete Abchasien [2] und Südossetien [3] verlor.

Zwar machte das Wiederaufflammen des Streits um Südossetien im Krieg zwischen Georgien und Russland im August 2008 [4] [en] international Schlagzeilen, aber sobald ein Waffenstillstand geschlossen wird, interessiert das Elend der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen kaum noch jemanden.

Auch die Medien in Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie den abtrünnigen Gebieten Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach befassen sich meist nur dann mit den Problemen der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, wenn sie sich für Propaganda gegen den Feind ausschlachten lassen. Die einzigen, die sich tatsächlich um diese Probleme kümmern, sind internationale Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen, die sie ins Bewusstsein der Spender zu rücken versuchen. Unterdessen ist keine Lösung der drei Konflikte abzusehen, was das Schicksal derjenigen, die durch sie ihre Heimat verloren haben, weiter erschwert.

Armenischstämmiger Flüchtling aus Berg-Karabach. © Onnik Krikorian, 1994

Armenischstämmiger Flüchtling aus Berg-Karabach. © Onnik Krikorian, 1994

Doch seit den Menschen in der Region neue und soziale Medien zur Verfügung stehen, und sei es nur als Informationsquelle, können sich die Betroffenen erstmals selbst online zu Wort melden. Ein Beispiel für ein solches Online-Sprachrohr ist iDP Voices [5] [en], ein vom Norwegischen Flüchtlingsrat, dem Internal Displacement Monitoring Center und Panos London gefördertes Projekt.

Interviewer von iDP Voices haben 29 Berichte von Binnenvertriebenen aus Südossetien und Abchasien [6] [en] zusammengetragen, die als Text- und Audiodateien abgerufen werden können. Ein Teil der Berichte ist außerdem in einer PDF-Datei [7] [en] zusammengefasst.

When did you last listen to a displaced person and grasp the impact of displacement? Did you ever think what it means to lose close family members in conflict, lose all your belongings and to be uprooted from your place of origin? […] These direct voices have the power to cut through prejudice and political agendas, they speak for themselves.

The focus is on universal human experiences and responses, not specific political issues. By reading what the displaced people themselves want to tell us, we may learn what is important to them and what issues they are particularly concerned about. […] It allows us to glean the reality behind generalised notions of displacement. The stories stand alone with little analysis added – their power lies in their offering of images, a voice, sensations, feelings, hopes and dreams. […]

Wann haben Sie zuletzt einem Vertriebenen zugehört und die Folgen der Vertreibung begriffen? Haben Sie je darüber nachgedacht, was es bedeutet, nahe Angehörige in einem Konflikt zu verlieren, all Ihren Besitz zu verlieren und aus Ihrer Heimat herausgerissen zu werden? […] Diese direkten Berichte können Vorurteile und politische Strategien durchbrechen; sie sprechen für sich.

Der Schwerpunkt liegt auf allgemeinmenschlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen, nicht auf politischen Aspekten. Wenn wir das lesen, was uns die Vertriebenen selbst mitteilen möchten, verstehen wir vielleicht, was ihnen wichtig ist und was ihnen besondere Schwierigkeiten bereitet. […] Es macht die Wirklichkeit hinter unseren schwammigen Vorstellungen von der Vertreibung sichtbar. Die Berichte stehen ohne große Analyse für sich. Ihre Stärke liegt darin, dass sie Bilder erzeugen, eine Stimme, Eindrücke, Empfindungen, Hoffnungen und Träume lebendig machen.

Eine dieser Stimmen ist die von Teah [8] [en], einer aus Abchasien geflohenen 30-jährigen Georgierin, die von einem „normalen Leben“ für alle Georgier und Abchasier, die „einander verzeihen“ müssen, träumt.

[…] I try to speak to both Georgians and Abkhazians. It is impossible to hate each other; we have made enough mistakes without adding that one as well! We should forgive each other and ourselves too. And one more thing: there has to be the will on both sides to achieve more trust and good relations. One party alone cannot solve anything.

I think these borders [between Abkhazia and Georgia] should be opened so that people can communicate with each other. Dialogue comes first, that can lead to trust…

[…] Only after talking about our own tragedies did we truly learn about each other and start to love each other. It took time to trust each other.

It was when we believed that we understood each other’s pain, when this moment came, that we could sit down and talk openly – without aggression, without accusations.

Ich versuche, sowohl Georgier als auch Abchasier anzusprechen. Es ist unmöglich, einander zu hassen; wir haben ohnedies schon genug Fehler gemacht! Wir sollten einander und auch uns selbst verzeihen. Und noch etwas: Beide Seiten müssen gewillt sein, größeres Vertrauen und bessere Beziehungen aufzubauen. Eine Seite allein kann nichts lösen.

Ich glaube, die Grenze [zwischen Abchasien und Georgien] sollte geöffnet werden, damit die Menschen miteinander kommunizieren können. Der Dialog steht an erster Stelle, nur er kann Vertrauen schaffen …

[…] Erst durch das Sprechen über die eigene Tragödie haben wir einander wirklich kennen gelernt und zu mögen begonnen. Es hat Zeit gebraucht, Vertrauen aufzubauen.

Als wir das Gefühl hatten, den Schmerz der anderen zu verstehen, war es so weit, dass wir uns zusammensetzen und offen sprechen konnten – ohne Aggressivität und Anklagen.

Derartige Berichte aus erster Hand sind allerdings selten, obwohl es einige Ausnahmen gibt. Zum Beispiel finanzieren internationale Spender die Veröffentlichung von Flüchtlingsbelangen durch örtliche Radiosender, obgleich diese oft nur kurze Zeit existieren, und ein junger Aseri (ein aus Armenien geflohener aserbaidschanischstämmiger Flüchtling) schrieb zwei Gastartikel für ein privates Projekt, das Teil des Dossiers von Global Voices über den Kaukasuskonflikt [9] [en] ist.

Der erste, auf Englisch [10] verfasste Artikel wurde später ins Armenische, Aserbaidschanische und Russische übersetzt:

[…] I was only four when I left Armenia, but in retrospect I don’t know whether that’s fortunate or not as I am unable to remember everything I left behind. But I do remember our house, our garden, the playground, my friends, my apple tree, and the rooster which I loved so much.

After arriving in Azerbaijan I used to dream about our house and walking in the ruins of our village. At some point, however, everything just faded away. Even so, my family have never lost their belief that one day we will go back home. We believe that two neighbors who have lived together for centuries will come together again even if evil has never left them alone and always whispers hatred.

[…]

In Azerbaijan, we kept ourselves apart from the local culture for many years and couldn’t adjust back to our ethnic roots. Being treated as a stranger made it even more difficult. Azerbaijanis from Armenia segregated themselves from the rest as a result and united among themselves. Discrimination towards us was everywhere. It was in the kindergarten I went to, in the primary school, and even in our social life.

[…]

This war made me a Peacemaker although I am very new in this area. My struggle is more complicated, however, because on the one hand I have to help those who are in conflict, and on the other help myself.

Ich war erst vier, als wir Armenien verließen, und im Rückblick weiß ich nicht, ob das gut oder schlecht ist, weil ich mich nicht an alles erinnern kann, was ich zurückgelassen habe. Ich erinnere mich jedoch an unser Haus, den Garten, den Spielplatz, meine Freunde, den Apfelbaum und einen Hahn, den ich sehr liebte.

Nach der Ankunft in Aserbaidschan träumte ich von unserem Haus und den Ruinen unseres Dorfes. Irgendwann verblasste jedoch alles. Trotzdem ist meine Familie bis heute davon überzeugt, dass wir eines Tages nach Hause zurückkehren werden. Wir glauben, dass zwei Nachbarn, die jahrhundertelang zusammengelebt haben, wieder zusammenkommen werden, auch wenn sie das Böse nie in Ruhe gelassen hat und ihnen immer Hass einflüstert.

[…] In Aserbaidschan haben wir uns viele Jahre von der örtlichen Kultur ferngehalten und fanden keine Verbindung zu unseren ethnischen Wurzeln. Dass wir wie Fremde behandelt wurden, machte es nicht einfacher. Die aus Armenien geflohenen Aserbaidschaner sonderten sich deshalb ab und bildeten eine eigene Gemeinschaft. Wir wurden überall diskriminiert. Im Kindergarten, den ich besuchte, in der Grundschule, sogar in unserem sozialen Umfeld.

[…] Dieser Krieg machte mich zum Friedensstifter, obwohl mir dieses Gebiet noch sehr neu ist. Mein Engagement wird allerdings dadurch erschwert, dass ich nicht nur denen helfen muss, die sich in einem Konflikt befinden, sondern auch mir selbst.

Wenn die meisten Flüchtlinge und Binnenvertriebenen in Armenien, Aserbaidschan und Georgien auch keine Stimme haben, so werden ihre Geschichten wenigstens gelegentlich online in unabhängigen Medien verbreitet. Ein Beispiel dafür ist ein neues Blogprojekt des International Center on Conflict and Negotiation (ICCN) und des Kaukasusprogramms des Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen (ECMI).

In einem russischen [11], auch ins Englische übersetzten [12] Artikel geben ein aserbaidschanischer und ein georgischer Journalist gemeinsam Einblick in die Hoffnungen der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen in ihren Ländern:

“Good neighborhood,” I was told by one refugee from the settlement of Dashalti in Nagorno-Karabkah, “this is when the people live not on the ‘other side’ and are divided by a line, but when they live near and next to one another, when they set up family, they visit one another and national identity does not matter in the least. For many centuries it was believed that the land belongs to those who live on it, who work on it. The rest was invented by the politicians. […]

Experience shows us that those who saw with their own eyes sorrow and worry and felt in their own hearts the trouble of their native country will never accept that it is lost. But at the same time they never want to repeat the same horrors, and they never strive for war. All the refugees who talked with us in Azerbaijan want to go back to their small native land and to live peacefully with Armenians.

„Gute Nachbarschaft,“ sagte mir ein Flüchtling aus der Siedlung Daschalti in Berg-Karabach, „bedeutet, dass niemand auf der anderen Seite einer trennenden Linie lebt, sondern alle bei- und miteinander leben, dass sie eine Familie bilden, einander besuchen und die Volkszugehörigkeit keinerlei Rolle spielt. Viele Jahrhunderte lang wussten die Menschen, dass das Land denen gehört, die auf ihm leben und es bestellen. Der Rest wurde von Politikern erfunden.“

[…] Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass diejenigen, die Elend und Sorgen mit eigenen Augen gesehen und die Krise ihrer Heimat im eigenen Herzen gefühlt haben, niemals akzeptieren werden, dass die Heimat verloren ist. Gleichzeitig möchten sie diesen Schrecken nicht noch einmal erleben und rufen nicht nach Krieg. Alle Flüchtlinge, die mit uns über Aserbaidschan sprachen, möchten in ihr kleines Heimatland zurückkehren und mit den Armeniern in Frieden leben.

Diese Einstellung ist nicht nur den aserbaidschanischen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen eigen, sondern wird oft auch von den Armeniern geäußert, die im von Vergeltungsmaßnahmen und ethnischen Säuberungen auf beiden Seiten geprägten Berg-Karabach-Konflikt fliehen mussten. Allerdings finden derlei Berichte nur relativ wenig Gehör, da das Internet nur wenigen Menschen in der Region zugänglich ist. Das Fernsehen, die Hauptinformationsquelle der meisten Menschen, räumt einer anderen Sicht auf den Konflikt keinen Platz ein.

Dennoch sind zumindest im Internet einige Filme mit Berichten von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen verfügbar, so etwa hier [13] [en] und hier [14] [en] auf Global Voices. Leider sind die wenigen Projekte, die den Flüchtlingen und Binnenvertriebenen in neuen und sozialen Medien eine Stimme geben, bisher wenig erfolgreich. Doch es bleibt die Hoffnung, dass diese Medien mit zunehmender Verbreitung des Internets ihre Wirkung entfalten.